Hamfast der Abenteurer

 

 

 

Ein bösartiges Kreischen erklang aus der Ferne. Es hörte sich an wie ein Rückzugsbefehl. Und tatsächlich stoben die Spinnen sogleich in alle Richtungen auseinander.

 

Hamfast sog die Luft scharf ein und ließ den zum Wurf erhobenen Arm sinken.

 

„Weiter!“ befahl Celeborn halblaut, und ohne darüber nachzudenken setzte Hamfast sich wieder in Bewegung, flankiert von seinen beiden Waldelbenfreunden. Verwundert blinzelte der kleine Mann nach einer Weile und sah sich um. Die Elben hatten exakt die gleiche Marschformation eingenommen, die sie vor dem Überfall inne gehabt hatten. Vor ihm führten Celebrimbor und Celeborn den Zug an. Das Sternenglas leuchtete verhalten und so friedlich, als hätte es nicht vor kurzem erst in hellem Triumph die Dunkelheit vertrieben. Alles war so unwirklich. Als ob nichts geschehen wäre. Als wäre der ganze Kampf nur ein Traum oder eine Laune seiner Phantasie gewesen.

 

Was das für ein Kreischen war, das die Spinnen zurückgerufen hatte, wollte er fragen. Aber er war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob nicht auch dieses seiner Einbildung entsprungen war. So sagte er nichts, sondern bemühte sich nur, mit den schnell ausgreifenden Erstgeborenen Schritt zu halten.

 

Schon lange hatte Hamfast jedes Zeitgefühl verloren. Es mochte früher Abend sein oder bereits Nacht. Er konnte es nicht sagen, denn noch immer drang kein Lichtstrahl durch die hohen und dichten Wipfel der Bäume. Nur das Sternenglas wies ihnen unbeirrt den Weg. Irgendwann jedoch begann sein Magen ganz fürchterlich zu ziehen, und so wußte er zumindest, daß es höchste Zeit für eine Mahlzeit war.

 

Mit kläglichem Blick sah Hamfast hinauf zu den Elben an seiner Seite. Drehte den Kopf von dem einen zum anderen. Hoffte auf diese Weise deren Aufmerksamkeit zu erlangen, ohne etwas in die ungebrochene Stille sagen zu müssen. Dabei kam er aus dem Tritt, stolperte über die eigenen Füße, fing sich wieder und hurtete mit einem trostlosen Seufzer den verlorenen halben Meter hinterher, um wieder in seine Lücke in der Reihe zu gelangen.

 

„Mir scheint, wir haben einen hungrigen Bären in unserer Mitte“, raunte Galadhion seinem Waldelbenfreund über Hamfasts Kopf hinweg zu.

 

Taurfaron grinste. „Hast du ihn also auch knurren gehört?“

 

„Ihr solltet etwas dagegen tun, Herr Hamfast“, mischte sich nun auch Celeborn ein. „Ihr verscheucht uns sonst sämtliche Spinnen.“

 

Hamfast nickte eifrig. „Sehr gerne, Herr Mornedhel, ich meine, Herr Celeborn“, verbesserte er sich. „Wenn ich nur wüßte, wie ich bei diesem Tempo an den Inhalt meines Rucksacks gelangen soll, ohne daß mir alles herauspurzelt.“

 

Celeborn wechselte einen forschenden Blick mit Celebrimbor. „Nun, ich denke, wir können für einen kurzen Moment rasten“, entschied er dann.

 

Mit einem Seufzer der Erleichterung blieb Hamfast augenblicklich wie festgewurzelt stehen. Hätten die Elben, die nach ihm kamen, nicht über solch hervorragende Reflexe verfügt, sie wären sicher in ihn hineingelaufen oder über ihn hinweggestolpert. So bekam der kleine Mann nicht einmal etwas von dem perfekt koordinierten Blitzstop in seinem Rücken mit, da er seinen Vorratsbeutel ohne sich dabei umzuwenden über den rechten Schultergurt nach vorne zog, nachdem er den linken Arm auf dessen Seite daraus befreit hatte. Mit dem Rucksack auf dem Boden ließ er sich in die Hocke nieder und war einen Atemzug später so tief mit dem Kopf in der Öffnung verschwunden, daß man nur noch den breitkrempigen Hut herausragen sah.

 

Das sah so ulkig aus, daß die Elben sich die ein oder andere lustige Bemerkung nicht verkneifen konnten. Und so ging ein leises überhaus heiteres Stimmengewirr durch den sonst so stillen Wald, wurde von den Blättern weitergetragen und streifte sanft die Ohren der verängstigten dort beheimateten Tiere. Neugierig kamen sie aus ihren Löchern und Höhlen, um die seltsame Schar zu betrachten. Rotpelzige Eichhörnchen, eine Hasenfamilie, ein verschlafener Igel, eine im Licht des Sternenglases blinzelnde Eule, ein Eichelhäherpärchen, ein paar eifrig schnüffelnde Spitzmäuse und vieles kleineres Getier.

 

„Seht doch!“ hauchte Taurfaron, der sie als erstes erblickte, wie sie sich so zutraulich um sie herumscharten.

 

Die übrigen Elben sahen sich auf diese Aufforderung hin um, und freuten sich über den friedlichen Anblick und die Neugierde der Tiere. Einer der Elben summte leise eine getragene Melodie an, dann sang er dazu eine sehnsuchtsvolle Ballade von Liebe und Leid und der Hoffnung, die alles trägt.

 

Nur Hamfast bekam von alledem nichts mit. Er steckte noch immer kopfüber in seinem Rucksack und tastete sich durch den im Dunkeln unkenntlichen Inhalt. Zuerst war er versucht gewesen, Celebrimbor um das Sternenglas zu bitten, hatte sich aber dann anders entschieden.

 

„Irgendwo hatte ich doch noch etwas Butter“, murmelte er vor sich hin, und seine Stimme klang dumpf aus dem Sack heraus. Ein Hase schüttelte bei diesem Geräusch aufmerksam seine langen Ohren und mümmelte mit dem weichen Näschen. Vorsichtig hoppelte er ein paar Schritte näher, setzte die Vorderpfoten leicht auf den Boden und reckte den Kopf, die Ohren fast senkrecht voraus gerichtet.

 

„Ah! Da ist sie!“ Hamfast kam mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck wieder zum Vorschein. Erschrocken zuckte der Hase zurück, klopfte mit dem Hinterfuß zwei- dreimal lautstark auf den Waldboden und war im nächsten Augenblick hakenschlagend hinter dem nächsten Baumstamm verschwunden.

 

„Nanu?“ Hamfast hatte das Klopfen vernommen, doch als er mit den Augen dem Geräusch folgte, war der Hase längst fort. Der kleine Mann kratzte sich mit der freien Hand hinter dem Ohr, zuckte die Schultern und legte die Butter neben sich ab, um nun auch noch das Brot und den Schinken dazu zu suchen. Erst als er beides hervor gebracht hatte, setzte er sich zum Essen auf den Boden, und erst, als die ersten Bissen zwischen seinen Zähnen verschwunden waren, und er mit einem erleichterten Seufzen feststellte, daß es seinem Magen langsam wohler ging, bemerkte er die freudig angespannte Aufmerksamkeit seiner Begleiter.

 

Der dunkelhaarige Elb hatte soeben sein Lied beendet und erst durch die erneut eintretende Stille fiel dem Hobbit auf, daß er den wundervollen Gesang völlig überhört, oder zumindest nicht bewußt wahrgenommen hatte.

 

„Oh, bitte Herr Elb“, sprach er ihn an, da er seinen Namen nicht kannte, „singt uns noch etwas!“

 

Ein zustimmendes Stimmengewirr schloß sich dieser Bitte an. Der Sänger legte die rechte Hand auf die Brust und verneigte sich ein wenig frotzelnd vor seinem Publikum. Dann stimmte er ein anderes Lied an, sanft und wiegend wie eine Blumenwiese an einem Frühlingsmorgen.

 

Hamfast genoß beides, das Essen und den Gesang, und als die Elben zum Aufbruch drängten, fühlte er sich so erholt, wie er es nach so kurzer Rast nicht für möglich gehalten hätte.

 

„Das war ein sehr schönes Lied, Herr Elb“, bedankte er sich bei dem Sänger mit einer ausladenden Verneigung.

 

„Lindor, zu Euren Diensten!“ äffte dieser mit schelmischem Grinsen die beliebte Floskel des Hobbits nach und verneigte sich ebenso tief, doch weit eleganter.

 

„Schön, schön. Das freut mich zu hören, Herr Lindor. Ich werde Euch bei Gelegenheit daran erinnern“, konterte Hamfast frech und schob breitgrinsend seinen Hut zurecht.

 

Lindor lachte glockenklar und kehrte zu seinem vorherigen Platz in der langen Reihe der Elben zurück, als der Trupp sich zum Weitermarsch bereit machte.

 

Die nächsten Stunden verliefen ruhig. Es erfolgte kein weiterer Angriff der Spinnenhorde, und auch ihre grünen Fazettenaugen waren nirgends zu sehen. Hamfast wußte nicht, ob er darüber beruhigt oder alarmiert sein sollte, doch er fühlte sich angenehm sicher in der Gesellschaft der Elben und so beeinflußte die Ungewißheit nicht seine gehobene Laune.

 

„Was geschieht nun weiter?“ fragte er nach einer Weile. „Marschieren wir bis zum Reich von König... König... Wie war doch gleich sein Name?“

 

„Thranduil“, half Taurfaron seinem Gedächtnis auf die Sprünge.

 

Hamfast nickte. „Wie lange brauchen wir bis dorthin?“

 

„Länger als Euer Atem reicht, um uns etwas über Euer Volk zu erzählen, das wir noch nicht wissen, Herr Hamfast!“ knurrte Celebrimbor zynisch von vorne.

 

Celeborn sah ihn mit hochgezogener Augenbraue von der Seite an. „Du solltest ihn inzwischen besser kennen, als seinen Redefluß herauszufordern“, formte er die Worte so leise, daß nur sein Nebenmann ihn hören konnte.

 

Celebrimbor biß sich auf die Lippen, als der kleine Mann tatsächlich voller Begeisterung ein kurzes Selbstgespräch führte, in dem er überlegte, wie er das falsch verstandene Interesse des Noldo an den Gepflogenheiten seiner Landsleute am besten befriedigen konnte. Er entschied sich schließlich, ihm von den wundervollen Festen zu erzählen, die sie zu allen Jahreszeiten feierten. Welche Besonderheiten ein jedes mit sich brachte, und wer wem wann zu welchem Anlaß etwas schenkte und welche Gaben in besonderem Maße geschätzt wurden.

 

So vergingen weitere Stunden, in denen die Elben nur kurze Pausen einlegten. Mehr zur Erholung Hamfasts als zu ihrer eigenen, wie es schien. Und als sie endlich anhielten, um sich auf eine längere Rast einzurichten, war der kleine Mann so erschöpft, daß er sich dort, wo er gerade stand, wie eine Katze zusammenrollte und augenblicklich in einen tiefen und festen Schlaf sank.

 

Die Reise durch die Dunkelheit des Waldes schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Hamfast hatte längst aufgegeben, das, was er für Tage hielt, zählen zu wollen, und in der Tat erschöpfte über dieser langen Wanderung selbst seine Lust am Erzählen.

 

Der Angriff kam so plötzlich, daß er erst bemerkte was vor sich ging, als er in seinen Vordermann hineinrannte, und die Elben bereits zum zweiten Mal ihre Pfeile abschossen. Sie hatten erneut in Gedankenschnelle ihre kreisförmige Kampfformation eingenommen, mit dem Hobbit in ihrer Mitte.

 

„Ai Elbereth!“ hörte er Celebrimbor stöhnen, und es klang nicht nach einer jener Aufforderungen, mit der der Elb das Sternenglas zu entzünden schien. „Sie ist hier!“

 

Sie? Hamfast blinzelte und versuchte zu verstehen, was gerade geschah. Es ging ein Zittern durch die Reihen der Elben, und er spürte seinen Mut sinken. Was konnte es sein, das die Erstgeborenen in solch offensichtliche Furcht versetzte?

 

Celeborn bellte einen Befehl, und die Krieger richteten sich neu aus. Hamfast erkannte, das, was auch immer es war, das sich ihnen da näherte, von ihrer bisher rechten Seite auf sie zukommen mußte, denn alle Elben wendeten sich dieser Richtung zu. Nun, vielleicht nicht alle, aber zumindest alle, die Hamfast aus seiner niedrigen Position ausmachen konnte.

 

Er bemerkte einen Schatten, der über ihren Köpfen hinwegkroch, wie ein Tintenfleck, der sich über Pergament ergoß. Nur daß dieser Fleck sich über ihnen ausbreitete, als wären die Baumkronen das Pergament und die Schwerkraft vertauscht.

 

Hamfast starrte mit großen Augen, als diese Dunkelheit sogar das Licht des Sternenglases auszulöschen drohte.

 

„Elbereth! Was ist das für ein Monster?“ schrie Galadhion auf. Auch Taurfaron und viel andere Elben gaben ihrem Entsetzen lautstark Ausdruck.

 

Im Angesicht solcher bangen Rufe sank der Mut des Hobbits noch ein weiteres Stück. Er umklammerte mit einer Hand die Schleuder, mit der anderen einen Kieselstein und starrte in die sich weiter ausbreitende Dunkelheit, ohne deren Ursache sehen zu können.

 

Celebrimbor hatte das Sternenglas sinken lassen und hielt es schützend in beiden Händen als befürchte er, dieses Was-auch-immer-für-ein-Untier könnte es ihm entreißen.

 

Die Kampfreihen der Elben drohten auseinander zu brechen. Die eine Hälfte starrte in Schrecken, die andere bedeckte die Augen mit ihren Händen als würde der Anblick sie schmerzen. Erst später erfuhr Hamfast, daß jene, welche nicht hinsehen wollten, von düsteren Erinnerungen geplagt wurden.

 

In diese Verwirrung ertönte laut und gebieterisch Celeborns Stimme. „Lacho Calad! Drego Morn!“ befahl er. Eine Bewegung ging durch die Reihen der Krieger wie eine Welle neu aufflammender Hoffnung. Erst vereinzelt und zaghaft, dann anschwellend und schließlich in trotziger Herausforderung nahmen die Erstgeborenen den Schlachtruf auf und stellten sich mit neu gefaßtem Mut der Bedrohung. So schnell, daß ein Auge kaum ihren Bewegungen folgen konnte, hatten sie die Kampfreihe wieder geschlossen und blickten stolzaufgerichtet dem Übel entgegen.

 

Das Sternenglas flammte hell und gleißend auf, als wäre dies die Erwiderung auf die Forderung der Elben.

 

Das Kreischen, das nun von jenem Ungeheuer erklang, war einfach unbeschreiblich. Hamfast ließ Schleuder und Kieselstein fallen, sank in die Knie und preßte sich stöhnend die Hände auf die Ohren.

 

Doch die Elben standen kampfbereit Seite an Seite, nicht willens, sich erneut einschüchtern zu lassen.

 

Celeborn gab den Befehl, und gleich darauf hörte Hamfast dutzende von Pfeilen von ihren Sehnen schnellen. Ein schmerzvolles Zischen kündete von zahlreichen Treffern.

 

„Sie zieht sich zurück!“ triumphierte einer der Elben. Hamfast wußte nicht welcher. Er kniete noch immer am Boden, unfähig sich zu erheben oder die Hände von den Ohren zu nehmen. Vor seinen Augen tanzten ihm helle und dunkle Schatten, weil er sie in der Eile wieder einmal nicht schnell genug geschlossen hatte, als das Sternenglas aufleuchtete.

 

Dann spürte Hamfast, wie ihn jemand unter den Achseln packte, und er erkannte Taurfarons besorgte Stimme:

„Ist alles in Ordnung? Du bist hoffentlich nicht verletzt?“ erkundigte er sich, während er ihm auf die Füße half.

 

„Ich bin nicht verletzt“, versicherte der Kleine und zog ein klägliches Gesicht. „Aber ob alles in Ordnung ist, kann ich nicht sagen. Was war das eben? Und was ist geschehen? Wo ist das Ungeheuer hin, das ihr bekämpft habt? Und was ist mit den Spinnen? Sind alle wieder weg? Können wir jetzt weiter? Wann erreichen wir einen Ort, an dem wir sicher sind?“ sprudelte er verängstigt heraus. So langsam begann seine Sicht sich wieder zu klären, und er blickte seinen Freund unglücklich an.

 

„Sie ist verschwunden, und ihre Brut mit ihr“, versuchte Taurfaron den verängstigten Hobbit zu beruhigen. „Aber...“

 

Bevor er weiter sprechen konnte, ertönte ein belustigter Ruf aus der vorderen Reihe. „Alae! Wenn das nicht das Getrampel von zweihundert Zwergenstiefeln ist!“

 

Zwerge? Natürlich! Das mußte Durin mit seinen Leuten sein! Hamfasts Gestalt reckte sich in freudigem Erkennen. Seine Augen leuchteten, aller Kummer war hinweggefegt, und eifrig zwängte er sich zwischen den Erstgeborenen hindurch an den Rand, um nun endlich auch einmal etwas sehen zu können.

 

Erst als er zwischen Celeborn und Celebrimbor stand, spitzte er die Ohren und lauschte in die Dunkelheit. Dann hörte er tatsächlich in der Ferne das sich nähernde Stampfen von schweren Stiefeln, und wenn er ganz genau hinsah erschien es ihm, als könnte er ein schwaches Licht erkennen.

 

Während er sich darauf konzentrierte, wurde sein Blick von einem goldenen Schimmer eingefangen und ein ganzes Stück weiter nach links gezogen. Was war das denn? Hamfast staunte mit offenem Mund. Es war, als würde der Wald von innen heraus erstrahlen. Das Licht breitete sich weiter aus und bewegte sich langsam und majestätisch auf sie zu. Es leuchtete in allen Farben eines warmen Herbstfeuers und leise Musik drang an sein Ohr, langsam an- und wieder abschwellend wie die Wogen einer sanften Frühlingsbrise. Als der Duft von winterlichen Gewürzen ihm in die Nase drang, glaubte Hamfast sich endgültig in einem Tagtraum gefangen.

 

„Thranduil!“ stöhnte Celeborn neben ihm. „Er kann der Versuchung für einen dramatischen Auftritt einfach nicht wiederstehen!“

 

 

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