Hamfast der Abenteurer
Mehrere
Tage lang folgten sie einem nicht als solches erkennbarem Weg nach Süden. Durch
dichten Wald und über schmale Lichtungen mit bunten Bumenwiesen, vorbei an kleinen
Bächen und sumpfigem Gelände, bergan und -ab, ohne daß die Elben sich ein
einziges Mal über die einzuhaltende Richtung im unklaren waren.
Auf
Hamfasts Erkundigung, ob sie ihren Reisegefährten nicht Nachricht geben müßten,
hatte Mornedhel nur milde gelächelt. Hamfast wußte um die Eigenarten der Elben
und hakte nicht weiter nach. Vermutlich war bereits dafür gesorgt.
Eines
Mittags saßen die Drei bei einem herzhaften Fleischeintopf, den Hamfast
bereitet hatte. Wie bereits auf seinen früheren Reisen, so hatten auch seine
neuen Gefährten recht bald erkannt, daß sie das Kochen am besten ihm
überließen. Vor allem aber war ihnen recht schnell klar geworden, daß sie ihn
bei dieser Beschäftigung nicht stören sollten. Das mochte Hamfast gar nicht.
Noch weniger aber gefiel es ihm, wenn ihm während des Essens jemand
buchstäblich in die Suppe fiel - wie diese Eule vor zwei Tagen.
Auf
lautlosen Schwingen war sie aus der tiefschwarzen Nacht aufgetaucht. Wohl im
Jagdeifer hatte der Raubvogel die drei Reisenden gar nicht bemerkt oder einfach
nicht beachtet. Im Herabstoßen auf ein Beutetier streifte sie Hamfasts Hut.
Dessen breite Krempe rutschte dem kleinen Mann daraufhin mit Schwung gegen den
erhobenen Löffel, dieser entfiel im Schreck der Hand, landete mit lautem Scheppern
im blechernen Napf, und der heiße Inhalt schwappte über den Rand auf Hamfasts
Hose. Mit einer Geschwindigkeit und Kraft, die ihm keiner der beiden Elben
zugetraut hatte, war Hamfast aufgesprungen, hatte die Eule noch bevor sie sich
mit ihrer Beute wieder in die Lüfte erheben konnte am Kragen gepackt und das
erschrockene Tier ärgerlich schimpfend durchgeschüttelt. Danach hatte er sie
mit der mürrischen Bemerkung, daß sich ihr Fleisch nicht zum Verzehr eigne,
wieder frei gelassen. Der Raubvogel suchte schleunigst das Weite - die nur
leicht benommene Maus ebenso. Hamfast aber setzte sich zurück auf seinen Platz,
hob den umgekippten Napf auf und schöpfte aus dem reichlich gefüllten Topf
nach, um sich in aller Seelenruhe wieder seiner Mahlzeit zu widmen.
„Diese
Orkbande hatte den Überfall geplant“, begann Hamfast unvermittelt, nachdem er
seine Schale mit dem Finger blitzblank geputzt hatte. „Ich frage mich, worauf
sie es abgesehen hatten.“
„Gold,
Edelsteine, Waffen...“ Celebrimbor war dem kleinen Mann seiner vorzüglichen
Kochkunst wegen milde gestimmt und bereit, ein paar wenige Fragen zu
beantworten. „Zwerge reisen selten ohne irgend etwas Wertvolles. Ihr ganzes
Leben ist bestimmt von edlen Metallen und Reichtum.“
Hamfast
starrte auf seine leere Schale und danach in den sauber ausgekratzen Kessel.
Bedauernd stellte er sein Geschirr auf den Boden. „Aber was wollen die Orks
damit anfangen? Mit Gold und Edelsteinen, meine ich. Ich glaube nicht, daß sie
sich an deren Schönheit erfreuen wollen, oder es auch nur könnten. Was haben
sie also davon?“
Die
Elben tauschten einen schnellen Blick. „Waffen können sie gebrauchen“,
antwortete Celebrimbor lahm.
„Sicher...“
Hamfast klang mit einem Mal müde. „Also all das Morden wegen ein paar Waffen?“
Traurig zog er die kleine Rassel aus der Hosentasche. Er hielt das Spielzeug
fast ständig, wenn seine Hände nicht anderweitig beschäftigt waren, schüttelte
es leise und fuhr mit den Fingern die Verzierungen nach. Das Metall war so
blank gearbeitet, daß sich der Schein des Feuers darin spiegelte. Hamfasts
Blick verlor sich in dem Flackern, welches ihm die schreckliche Szene jener
Nacht vorgaukelte.
„Orks
morden für weniger als dies“, versuchte Mornedhel ihn zu trösten. „Und doch
waren es vielleicht nicht einfach irgendwelche Waffen.“
„Wie
meint Ihr das?“ Hamfast riß sich aus seinen trüben Gedanken und sah den Elben
erwartungsvoll an.
Doch
Mornedhel war nicht bereit, seine Neugierde zu stillen. „Es ist nur eine
Vermutung. Wir reden ein andermal darüber. Jetzt müssen wir weiter.“
„Oh,
es läßt sich auch sehr gut über der Arbeit oder beim Gehen reden“, versichterte
Hamfast eifrig, während er bereits das Geschirr zusammenräumte, den Topf vom
Feuer nahm und mit beiden Händen Erde auf die Flammen warf, um sie zu
verlöschen.
Aber
beide Elben hüllten sich in Schweigen. Da nützten auch die wiederholten
Nachfragen und Aufforderungen zum Sprechen nichts. Schließlich gab Hamfast
seine Bemühungen auf. Mürrisch stopfte er den Topf in seinen Rucksack, warf ihn
sich über die Schulter und stapfte los, ohne sich noch einmal nach den
Reisegefährten umzusehen.
Hamfasts
Unmut über die Einsilbigkeit der Erstgeborenen dauerte nicht lange an. Sie
hatten gerade eben die Lichtung überquert und sich durch einen dichten
Buschstreifen voller Dornen gewunden, da eröffnete sich ihnen ein gar
eigenartiges Bild.
Ruckartig
zog Hamfast seinen Fuß zurück, mit dem er beinahe in ein sorgfältig
aufgehacktes Blumenbeet getreten wäre.
„Wie...?
Was...?!“ Staunend schaute er sich um. „Gärten! Beete! Seht nur wie alles grünt
und blüht! Nie zuvor sah ich eine solche Farbenpracht! Und alles so sorgfältig
hergerichtet! Wer mag hier wohnen? Ich sehe nirgendwo ein Haus. Nur Blumen so
weit das Auge reicht!“
Schmunzelnd
trat Mornedhel neben den kleinen, begeisterten Mann. „Die Ents wohnen hier.
Genauer gesagt, die Entfrauen. Ihre Männer ziehen die dunklen Wälder vor.“
„Ents?
Was sind Ents?“
„Das
werdet Ihr bald erfahren. Kommt, doch gebt acht, daß Ihr nicht die Blumen
zertretet. Euer Pony laßt besser hier zurück. Keine Angst, es ist nicht in
Gefahr. Die Ents bewachen ihre Grenzen gut und kein Ork überschreitet sie
ungestraft.“
Hamfast
nickte stumm. Er nahm Bôr zur Erleichterung Sattel und Zaumzeug ab und
streichelte ihm beruhigend den Hals. Dann folgte er wie im Traum den Elben
durch das Blütenmeer. Er erblickte kleine unscheinbare Pflänzchen und hohe
Stauden, ihm bekannte und unbekannte Gewächse und roch eine Fülle von
unterschiedlichsten Düften, die seine Sinne gefangen nahmen.
Auf
einer sanften Anhöhe stand eine starke, borkige Eiche. Sie genoß sichtlich die
wärmenden Strahlen der Sonne, denn sie streckte ihr die Zweige wie offene Arme
entgegen. Gleichzeitig schützte sie durch ihr dichtes Blätterdach die
hitzeempflindlichen Nachtröschen, welche zu ihren Füßen wuchsen. Sie haben
ihren Namen daher, daß sie ihre Blüten in der ersten Vollmondnacht des
Frühjahres öffnen. Kleine, zierliche Pflanzen, die in allen Schattierungen von
Hellrosa bis Dunkelrot erblühen.
Hamfast
bemerkte, daß sie gerade soweit wuchsen, wie der Schatten des Baumes reichte.
Soeben wollte er seine Verwunderung darüber zum Ausdrück bringen - denn mit dem
Lauf der Sonne würde sich der Schatten doch verändern - als die beiden Elben
sich in höflichem Gruß vor der Eiche verneigten.
„Ist
das auch ein sprechender Baum?“ platzte Hamfast aufgeregt heraus und schwenkte
mehr aus Gewohnheit als in irgend einer besonderen Absicht seinen unförmigen
Hut grüßend durch die Luft.
„Ein
Baum? Ich bin kein Baum! Ich bin ein Ent“, raschelte es in den Blättern, wie
sanftes Rauschen des Windes.
Die
Eiche drehte sich einmal um die eigene Achse, wohlbedacht darauf, die Rosen zu
ihren Füßen nicht zu zertreten oder den schützenden Schatten zu verlagern. Sie
beugte sich ein wenig zu Hamfast herab, und dieser sah sich unvermittelt einem
großen grasgrünen Augenpaar gegenüber.
„Genaugenommen
eine Entfrau. Hram, hum“, murmelte sie nachdenklich. „Doch was seid Ihr?“
Hamfast
blinzelte erstaunt, als sei er nicht sicher, ob er wache oder träume, und vergaß,
die Frage zu beantworten. „Eine Entfrau!“ stammelte er stattdessen und setzte
seinen Hut auf den Kopf, um ihn erneut abnehmen und schwenken zu können,
diesmal von einer tiefen Verbeugung begleitet. „Hamfast Gerstenbräu, zu Euren
Diensten!“
„Hu,
hm.“ Die Entfrau neigte ihren Kopf nachdenklich zur Seite, und da dieser mit
dem Stamm eine Einheit bildete, so bog er sich mit, und es schien zuerst, als
müßte die borkige Rinde bei dieser Bewegung platzen. Doch sie war geschmeidiger
als sie aussah und folgte der Biegung wie eine schuppige Haut.
„Wir
sind hier, um etwas von Euch einzufordern.“ Mornedhel war neben Hamfast
getreten.
Die
Entfrau ließ von ihrer neugierigen Musterung des Hobbits ab und nickte
verstehend. Dabei knarzte ihr Körper auf eine so merkwürdige Weise, daß es fast
nach Worten klang. Doch alles was Hamfast verstand, war „Humm“ und „Barumm“.
„Ihr
sucht nach dem Kind. Es ist nicht hier.“ Sie richtete sich zu ihrer vollen
Größe auf und legte zwei ihrer Äste über Kreuz vor den Stamm - etwa so, als
hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt.
„Die
Bäume haben es Euch zugetragen. Ihr braucht es nicht zu leugnen. Und ich
brauche Euch wohl auch nicht zu erklären-“
„Ihr
werdet das Kind nicht bekommen“, unterbrach sie den Elben schroff. Hamfast
zuckte bei diesen Worten erschrocken zusammen. Vielleicht war es besser, diese
Entfrau nicht erzürnen, überlegte er, und malte sich aus, wie sie ihn mit einem
einzigen Schlag ihrer mächtigen Zweige zertrümmern könnte. Unauffällig trat er
einen Schritt zurück.
„Ah,
so ist es also hier.“ Mornedhel sah dem baumartigen Wesen furchtlos in die
Augen.
„Mein
Herr!“ suchte Celembrimbor seine Aufmerksamkeit. „Seht!“
Vom
Waldrand her bewegten sich an die zwanzig Gestalten, die das Aussehen
unterschiedlichster Baumarten besaßen, auf den Hügel zu. Eine sah aus wie eine
Tanne, eine andere ähnelte einer Buche, wieder eine andere hätte man für eine
Lärche halten können. Eines hatten sie alle gemeinsam: wie waren groß und stark
und ihre drohende Haltung verriet wenig Freundlichkeit für die Besucher.
„Ihr
werdet das Kind nicht bekommen“, wiederholte die Entfrau mit Nachdruck.
„Was
wollt Ihr mit ihm?“ Unbeeindruckt streifte Mornedhel mit leichter Hand ein
herabgefallenes Eichenblatt von seinem Gewand. „Ein Zwergenkind ist nicht der
rechte Umgang für euch“, spöttelte er.
„Har-ummm!“
schimpfte die Entfrau, doch ihr Einschüchterungsversuch prallte an dem
Gleichmut des Elben ab wie Wasser an einem Felsen.
Mornedhel
winkte Celebrimbor mit einer flüchtigen Geste, die Hand vom Schwertgriff zu
nehmen.
„Was
wollt Ihr mit ihm?“ lautete die Gegenfrage. „Ihr haßt die Zwerge von alters
her.“
„Und
doch kann es mein Wunsch nicht sein, sie hilflos ihrem Schicksal zu
überlassen.“
„So,
so. Kann es nicht? Kann es das nicht?“ Zweifelnd wiegte die Entfrau ihren Kopf.
„Nicht,
wenn es unseren Gegner stärkt.“ Die übrigen Ents waren inzwischen
herangekommen. Mornedhel blickte in die Runde. „Gegner, die auch die Euren
sind.“
Die
Entfrau ließ ein dumpfes Lachen hören. „Wir fürchten die Orks nicht!“ Ihre
Verwandten nickten und knarrten und raschelten zustimmend mit den Zweigen,
Blättern und Nadeln.
Hamfast
stand da und blickte verständnislos um sich. „Reden wir noch von dem Kind?“
wagte er vorsichtig zu fragen.
„Das
Kind. Ja. Hra rum!“ Die Entfrau gebot den Ihren mit einer Bewegung ihres
Geästes Ruhe. „Das ist eine gute Frage, Hamfast Gerstenbräu. Warum seid Ihr
hier, wo Ihr doch die Orks verfolgen solltet, die gestohlen haben, was Euch so
wertvoll erscheint?“
Mornedhels
Ruhe schien unerschütterlich. „Ihr ahnt es also. Oder wißt Ihr es?“
Hamfast
sah sich um und gewahrte, daß die Entfrauen noch dichter aufgeschlossen hatten.
Jedoch beachteten sie ihn, der ein wenig abseits stand, nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit
galt der Unterhaltung.
>Na,
hoffentlich zertreten die mich nicht aus Versehen<, sagte Hamfast zu sich
selbst. Ihm war etwas mulmig zumute zwischen all den mächtig großen Wesen -
eben weil diese gar nicht zu wissen schienen, daß er da war. So beschloß er,
aus dem Kreis heraus zu schleichen, was ihm nicht schwer fiel. denn er war
klein und wendig und wirklich niemand beachtete ihn.
Hier
atmete der Hobbit erst einmal tief durch, klopfte einige Nadeln und Blätter von
seiner Jacke und schüttelte seinen Hut aus.
>Reine
Vorsichtsmaßnahme!< verteidigte er seinen Mut, stülpte schwungvoll seine
Kopfbedeckung auf und spitzte die Ohren. Zu seinem Bedauern mußte er jedoch
feststellen, daß die Stimmen von der Entfrauen-Wand so sehr gedämpft wurden,
daß sie nur bruchteilhaft zu ihm durchdrangen. Auf diese Weise war es nun gar
nicht mehr möglich der Unterhaltung, die ihm bereits in ganzer Lautstärke immer
unverständlicher geworden war, weiter zu folgen.
Hamfast
zuckte die Achseln. Besonders aussichtsreich für ihr Vorhaben hatte der Disput
zuletzt ohnehin nicht geklungen. Irgendwo in der Nähe mußte das Kind doch zu
finden sein. Er erinnerte sich, daß ein Großteil der Entfrauen aus östlicher
Richtung gekommen war. Er erinnerte sich außerdem, daß die Frauen vom östlichen
Waldrand ein wenig später herangekommen waren als die übrigen.
Celebrimbor
hatte die Befürchtung geäußert, daß die Ents dem Zwergenkind feindlich gesinnt
sein könnten. Mornedhel schien an diesen Bedenken noch immer festzuhalten.
Hamfast war ehrlich besorgt um das Kleine gewesen, bis er erfahren hatte, daß
es nicht in die Hände der männlichen, sondern der weiblichen Wesen dieses
eigenartigen Volkes geraten war.
Hamfast
lächelte vor sich hin. Ja, dem Kind ging es gut. Und er wußte nun, wo er es zu
suchen hatte.
~*~