„Zwei
JAHRE?“ Meine Stimme vollführte einen akrobatischen Aufwärts-Akt.
Radagast
schlug bequem die Beine übereinander und paffte seelenruhig seine Pfeife. „Du
hättest die Zeit ruhig nutzen können, hier ein wenig aufzuräumen.“
Ich starrte
erst den Zauber, dann die spärliche Einrichtung sprachlos an. Dann erkannte
ich, daß es ihm für drei Sekunden gelungen war, meine Gedanken in eine andere
Richtung zu lenken. Ich räusperte mich mehrmals, bevor ich wieder die Gewalt
über meine Stimme gewann.
„Zwei
Jahre?“ fragte ich noch einmal mit etwas mehr Nachdruck.
Er
reagierte so wie stets, wenn er mir nicht antworten wollte. Nämlich überhaupt
nicht. Verträumt blickte er den kreisrunden Rauchkringeln hinterher und
erdachte neue Formationen für seine nächsten Kunstwerke.
Ungeduldig
trippelte ich mit den Fingern auf der Tischplatte und atmete zischend die Luft
ein, als ich mir dabei einen Splitter einzog. „Du willst mich doch nicht so
lange hier einsperren, oder?“ knirschte ich, während ich mit konzentriert
zwischen die Zähne geklemmter Zunge versuchte, mir das Stück Holz
herauszupulen. „Ich meine, hast du eine Ahnung, wie es mir die letzten drei
Monate ergangen ist? Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zurück!“
„Das tut
mir leid.“ Skeptisch beäugte ich ihn, konnte aber nicht den geringsten Hinweis
auf Zynismus erkennen. „Aber immerhin mußt du zugeben, daß du inzwischen eine
Menge gelernt hast.“
Hatte ich
das? Ich blinzelte ein paarmal und ließ von dem Splitter ab.
„Oh, na
klar! Ich bin zum Pilzexperten avanciert und habe das Nichtstun zur
Wissenschaft erhoben“, plauderte ich in einem Ton, der an Ironie nicht zu
überbieten war.
„Du hast
gelernt wo deine Grenzen sind.“ Radagast zwinkerte mir großväterlich zu. „Und
du hast deine innere Ruhe gefunden.“
Ha! Ich
verschluckte mich fast an meinem eigenen Sarkasmus und nur ein ordentlicher
Hustenanfall konnte mich vor dem Schlimmsten bewahren.
Innere
Ruhe?
„Ich bin
halb wahnsinnig geworden vor Langeweile! Da waren mir selbst Laineths Handarbeitsstunden
lieber!“ Ich lispelte die deutsche Genitivform des Schneiderin-Namens mit einer
übertriebenen Verdrehung der Zungenspitze.
„So?“
dehnte Radagast. Ich seufzte. Dieser Mann war wirklich hoffnungslos weltfremd.
„Nach dem was Aiwendil mir gesagt hat, hast du sehr große Geduld bewiesen.“
Öhm...
„Du bist
ihm an die entlegendsten Plätze gefolgt und hast dir alles angesehen, was er
dir zeigen wollte.“
„Ich
hatte Hunger...“ Müde hob ich die Achseln.
„Aber du
warst ihm auch nicht böse, wenn er dir statt ein paar neuen Pilzen die
Schönheiten der Natur gezeigt hat.“
„Das hat
mich abgelenkt.“ Worauf wollte er hinaus?
„Und du
hast ihm zugehört.“
„Er hat
eine schöne Stimme.“
„Du hast
sogar erreicht, daß mein Brauner sich von dir berühren läßt!“ setzte er dem
ganzen noch die Krone auf.
„Mit den
Fingerspitzen zwischen den Nüstern...“, blaffte ich.
„Rede
dich nicht schlechter als du bist“, fuhr Radagast mich unwirsch an und tippte
mit dem Pfeifenstil schmerzhaft zwischen meine Augenbrauen. „Das ist mehr, als
jemals sonst jemand erreicht hat. Und außerdem: Du lebst noch, oder?!“
Völlig
perplex glotzte ich ihn an und im Zeitlupentempo entgleisten mir dabei die
Gesichtszüge. Mein Unterkiefer klappte wie von selbst herunter und für einige
Augenblicke vergaß ich das Atmen. Zum Glück hatte Mutter Natur für solche
Momente eine Art Notfallventil irgendwo eingebaut, worauf meine Lungen
rechtzeitig reagierten, bevor ich blau anlaufen konnte. Ich schnappte wie ein
Ertrinkender nach Luft.
„Ich lebe
noch?“ Eigentlich hatte ich die Worte brüllen wollen, aber mir fehlten gerade
die Reserven. Außerdem wurde mir ein wenig schwindlig und ich mußte mir erst
einmal die Zeit lassen, mich wieder zu beruhigen.
Gut, also
wollen wir die Sache einmal realistisch betrachten. Ich lebte noch, weil ein
kleiner bunter Vogel mich am vierten Tag meines Alleinseins in Mittelerde davor
bewahrt hatte, giftige Pilze zu essen. >Am Mittagessen verstorben< wäre
aber auch wirklich ein tolkien-unwürdiger Abgang gewesen. Selbst wenn dies hier
eigentlich gar nichts mit ihm zu tun hatte... Es gab Dinge, die tat man einfach
nicht.
Ich lebte
noch, weil Radagasts Heim von irgend einer Art unsichtbarem Schutzzauber
umgeben war, der die bösen Kreaturen von hier fernhielt, mutmaßte ich. Der
Istar war mir natürlich auch auf meine Frage hiernach die Antwort schuldig
geblieben.
Hatte ich
in den drei Monaten eigentlich überhaupt etwas geleistet, das ich auf mein
eigenes Konto schreiben konnte?
Radagast
hatte meine Hand ergriffen und entfernte mit einem kleinen, spitzen Gegenstand
den Splitter. Ich gewahrte kaum was er tat und steckte abwesend den Finger in
den Mund, um den Schmutz aus der Wunde zu saugen.
„Wo meine
Grenzen sind...“, sinnierte ich. „Ist es das, was du mich lehren wolltest?
Demut?“
Der Istar
lehnte sich mit einem leisen Schmunzeln zurück. „Übrigens... Man erwärmt das
Wasser eimerweise über der Feuerstelle, bevor man es in die Wanne schüttet.“
Ich
spürte, wie mir die Schamesröte in den Kopf stieg. „Das hat er dir auch
erzählt?“ flüsterte ich betreten.
Wieder
konzentrierte Radagast sich auf seine Rauchkringel, die jetzt einen Reigen in
der Mitte des Raumes tanzten.
Heute am
frühen Nachmittag war er plötzlich auf der Lichtung erschienen. Staubig, müde
und grummelig, wie eh und je. Galvorn würde Galadriels Aufforderung nicht nachkommen, hatte er auf meine
Frage wie die Reise verlaufen war schlecht gelaunt geantwortet, aber keine
Erklärung folgen lassen. Statt dessen hatte er mir seine Hoffnung mitgeteilt,
nun für die nächsten zwei Jahre vor solcherlei Botengängen verschont zu
bleiben. Danach könne dann selbst ich nichts mehr verderben.
Zwei
Jahre... Ich war nach Mittelerde gekommen, um so lange darauf zu warten, bis
ich den mir Versprochenen auch nur sehen sollte? Und schon mußte ich meine
eigenen Schlußfolgerungen wieder ausbessern. Als Radagast so sehr bedauert
hatte, daß er mich >jetzt< nach Mittelerde bringen mußte, hatte er nicht
nur den Ringkrieg, sondern auch die lange Wartezeit gemeint. Dieses unerwartete
Mitgefühl zwang mir neue Sympathien für den kauzigen Kerl ab. Dennoch beschloß
ich, ihn nicht nach dem wahren Grund seiner damaligen Aussage zu fragen. Zu
sehr befürchtete ich, daß die Antwort mich ernüchtern würde.
~*~