Ein
altes, deutsches Sprichwort besagt, daß der Mensch denkt und Gott lenkt. Nun,
erfreulicherweise galt dieser Spruch auch für Maiar unter Erus Führung. Obwohl
ich mir nicht sicher war, ob in diesem Fall nicht eher einer der Valar seine
Hand im Spiel hatte.
Nach
ungefähr einer Woche, in der ich begierig über Radagasts Gemüsekreationen und
Dörrfleischreste hergefallen war, stand er plötzlich mit geschnürtem Bündel an
meiner Lagerstatt. Es mußte kurz nach Mitternacht sein. Der Vollmond stand hoch
am Himmel und sein Schein fiel steil durch das ramponierte Dach. Die Freude
über meine neue erworbene Fähigkeit, die Nachtzeit auf diese Weise grob zu
bestimmen, wurde allerdings durch den ebenfalls heruntertröpfelnden Nieselregen
stark beeinträchtigt.
Verschlafen
und verständnislos blinzelte ich den Istar an, dessen dunkle Silhouette ich nur
verschwommen in dem düsteren Gemach erkennen konnte. Seine Erklärung fiel
gewohnt kurz aus:
„Wir
müssen sofort aufbrechen!“ befahl er mürrisch.
Ich
wartete auf den erweiterten Nebensatz und gähnte unterdessen herzhaft. Danach
war ich mir nicht sicher, ob mir die Erläuterung nicht einfach entgangen war.
Bekannterweise hört man so schlecht, wenn man den Mund so weit wie möglich
aufreißt, lautstark die Luft einsaugt und das ganze auch noch mit einem
wohligen Räkeln begleitet.
„Wohin?“
lallte ich und rieb müde an meinen Augen herum.
„Ins
Waldelbenreich.“
Ich war
auf der Stelle hellwach, setzte mich auf und warf die Decke beiseite.
„Ins
Waldelbenreich? Ist das dein... ich meine... wirklich?“
Aufgeregt
krabbelte ich auf allen Vieren zum nächsten haltgebenden Möbelstück, an dem ich
mich hochziehen konnte. Mir wurde kurz schwarz vor den Augen, denn ich vertrage
kein hastiges Aufstehen. Als ich die schweren Lider wieder hob, war Radagast
bereits zur Türe hinaus.
„Wir
müssen uns beeilen!“ hörte ich seine drängenden Worte um die Ecke, dann war er
im Stall verschwunden.
Mit
beiden Händen strich ich die verstrubbelten Haare aus dem Gesicht und gähnte
noch einmal ausgiebig. Ich dachte gar nicht daran, den neuen Entschluß des
Zauberers infrage zu stellen oder der schäbigen Hütte hinterherzutrauern.
Obwohl das provisorische Bett doch eine gewisse Anziehungskraft auf mich
ausübte. Energisch schüttelte ich den Kopf und versuchte damit, den Schlafdrang
zu besiegen. Man muß wissen, daß ich ein notorischer Lang- und Dauerschläfer
war, um zu begreifen, wie schwer es mir fiel, mich nicht einfach wieder
hinzulegen. In diesem Zustand, nämlich wenn ich mitten im Tiefschlaf gestört
wurde, war mir oft alles andere egal, wenn ich nur weiterschlafen konnte.
Heute war
das anders und das war ein sicheres Zeichen dafür, wie sehr ich mich danach
sehnte, dorthin zu kommen, wohin uns diese Reise führen sollte. Da schreckte
mich kein Aufstehen, kein Nieselregen, keine kalte ungemütliche Nacht und kein
mühsamer Ritt durch einen düsteren Wald ab. Ich würde endlich, endlich Galvorn
sehen! Denn wenn ich erst einmal im Reich König Thranduils war, würde mich
nicht einmal mehr Radagast davon abhalten können!
Wieder
wurde mir schwindlig. Diesmal nicht vor Schlaftrunkenheit, sondern vor Glück.
Ich atmete noch einmal tief durch, raffte meine Habseligkeiten zusammen, die
alle in einem Winkel lagen und stopfte sie unachtsam in meinen Beutel. Danach
schlurfte ich ebenfalls hinüber in den Stall.
Unter dem
Türrahmen wurde ich zunächst von einem satten Wasserstrahl aus der
abgebrochenen Regenrinne begrüßt. Prustend und hustend stapfte ich durch die
dünne Matschschicht und schüttelte dabei den Kopf nach unten aus, ohne darauf
zu achten, wo ich hinlief. Blindlings bog ich zum Stall ab, wich mit vor
Müdigkeit verlangsamter Reaktion zur Seite aus, als Radagast mir bereits mit
den beiden Pferden entgegenkam und stieß unsanft mit dem Rücken gegen die Stalltür.
„Steig
auf!“ raunzte er mich an, als wäre ich daran schuld, daß er zu dieser
nächtlichen Stunde hier draußen war. Nun, wahrscheinlich war ich das auch.
Seufzend
ergriff ich die Zügel und führte Brasfaloth zu einem schönen, großen Stein, der
gleich neben der Tür lag und wie geschaffen dafür war, als Aufsteighilfe zu
dienen. Kaum saß ich oben, trieb der Istar seinen Braunen an und bevor ich noch
fragen konnte, ob es nicht sehr ungemütlich sei, mit den Pferden durch den
dichten Wald zu reiten, schlug mir als Antwort ein Nadelbaum seinen
tiefhängenden Ast durchs Gesicht. Ich wimmerte, streckte eine Hand abwehrend
nach vorne und erhielt von der anderen Seite einen noch heftigeren Hieb, der
mich beinahe vom Pferderücken fegte.
Hier
zwischen den Bäumen war es stockfinster. Ich konnte nicht einmal ein Schimmern
meines doch immerhin blendend weißen Schimmels erkennen. Wie sollte ich da
irgendwelchen Ästen ausweichen?!
„Radagast!“
schrie ich verzweifelt.
Autsch!
Das hatte gesessen. Der Hengst breschte inzwischen in gemäßigtem Galopp durch
das Unterholz und schien genau oder zumindest deutlich genug zu sehen, wo die
Reise hinging. Dabei achtete er ziemlich gut darauf, nicht selbst mit einem
Baum in Konflikt zu geraten, hatte aber weniger Feingefühl für seinen armen
Reiter. Ich warf mich flach auf den Bauch und umklammerte Brasfaloths Hals. Das
war zwar unbequem, aber wesentlich sicherer.
„Radagast!“
kreischte ich noch einmal und bemühte mich verzweifelt, mich an dem
glitschig-nassen Fell fest zu halten.
Der Istar
ließ ein böses Zischen hören. „Schweig still, wenn du uns nicht in noch größere
Gefahr bringen willst!“
Noch
größere? Ich schluckte hart, wagte aber nicht zu fragen, was genau er damit
meinte. Urplötzlich fiel mir auf, daß es einen Grund für unseren überstürzten
Aufbruch geben mußte, denn trotz Radagasts Vorliebe für schnelle Abreisen mußte
ich ihm zugute halten, daß er dafür bisher doch zumindest halbwegs christliche
Tageszeiten eingehalten hatte.
Also
hielt ich meinen Mund, und zwar so eisern, daß ich auf dem ganzen Weg nicht ein
einziges Wort mehr sprach. Dies bedeutete immerhin einen Zeitrahmen von
ungefähr dreißig Tagen. Zwar war ich nicht gerade für meine Gesprächigkeit
bekannt, aber eine solch lange Schweigeperiode war selbst für mich rekordverdächtig.
Vor allem, weil ich Radagast so gerne nach dem >Warum< gefragt hätte.
Doch ich tröstete mich damit, daß er mir den Grund ohnehin erst dann nennen
würde, wenn er es für angebracht hielt und eine Nachfrage ihn nicht früher zu
einer Aussage verleiten, sondern nur unnötig Energie verbrauchen würde.
Und davon
benötigte ich im Moment wirklich alle für den fürchterlichen Ritt. Es war wie
ein Alptraum. Hatte ich wirklich geglaubt, die Reise von Bruchtal nach
Rhosgobel hätte mich an meine Grenzen geführt? Schon sehr bald war ich davon
überzeugt, daß ich bislang nicht einmal annähernd wußte, wo ich diese zu suchen
hatte.
Der
Nieselregen ging in Platzregen über und dieser wechselte sich mit Gewitterregen
ab. Bei diesem Wetter lag der Wald in ständiger Dunkelheit. Ich konnte nicht
einmal die Hand vor Augen sehen, geschweige denn mich in irgendeiner Weise
orientieren. Radagast hätte mich im Kreis herum führen können und ich hätte es
nicht bemerkt. Es war naß, kalt und in der liegenden Stellung wurden meine
sämtlichen Knochen dermaßen durcheinander gerüttelt, daß ich kaum noch die
Kraft aufbringen konnte, mich aktiv auf dem Pferd zu halten. Einzig meine
steifen Muskeln verhinderten ein Lockern meiner Verkrampfung.
Wenn wir rasteten,
mußte Radagast gewaltsam meinen Griff lösen und mich zu Boden ziehen. Ich war
so erledigt, daß ich mich dann nur noch in meine dichte, aber ebenfalls völlig
durchnäßte Decke wickeln und in eine Art Bewußtlosigkeit versinken konnte. Wie
der Zauberer mich dann stets wieder wach und aufs Pferd bekam, kann ich heute
nicht mehr sagen.
Einige
Male spürte ich, wie Radagast uns in ein dichtes Gestrüpp lenkte. Manchmal
befahl er dann den Pferden sich niederzulegen oder zerrte mich grob zu Boden,
wo er mich tief in das Unterholz hineindrückte. Ich konnte von einer Gefahr
weder etwas sehen – was mich nicht verwunderte – noch etwas hören, was
eigentlich schon ungewöhnlich war, denn bisher hatte ich immer gedacht, meine
Ohren wären in Ordnung. Aber vielleicht lag das einfach an meinem jämmerlichen
Allgemeinzustand.
Am
dritten oder vierten Tag kam zu der körperlichen Erschöpfung nämlich auch noch
eine ausgewachsene Erkältung hinzu. Jetzt lief nicht nur der Regen in Strömen
an mir herunter, sondern auch der Inhalt meiner Nase und eine beißende
Flüssigkeit aus den Augen. Aber statt des ersehnten aufmunterndem Mitgefühls
bekam ich nur Radagasts miese Laune zu spüren, und zwar immer dann, wenn ich
niesen oder husten mußte oder mein körperliches Elend sich in einem leisen
Ächzen und Stöhnen Luft machte.
In meinem
ganzen Leben war ich noch nie so glücklich und dankbar über nachlassenden
Regen. Durch die noch diesige Waldluft und die dichten Tannen zwängte sich ein
dünner Sonnenstrahl und enthüllte unwirklich und schleierhaft einen
festungsähnlichen Bau unmittelbar vor uns. Er war sehr flach und schien tief in
die Felsenwand hineingebaut zu sein, denn nur seine äußerste Front ragte daraus
hervor. Erst war ich mir nicht sicher, ob ich nicht einem Trugbild oder meinem Fieberwahn
erlag.
Mit
letzter Kraft stützte ich mich am Widerrist ab und fiel vor Schreck beinahe vom
Pferd, als von beiden Seiten schwer bewaffnete Elbenkrieger aus dem Nichts
auftauchten, die Bögen gespannt und die Pfeile auf uns gerichtet. Endlich
begriff ich, daß wir an unserem Ziel angekommen waren.
Für
einige Augenblicke herrschte Stille. Dann zerriß mein explosionsartiges Niesen
die Luft. In einem Reflex versuchte ich, mir die Nase zuzuhalten, kam aber zu
spät und sah mich einem schleimigen Problem gegenüber. Hilflos suchte ich nach
einem Taschentuch, mußte aber feststellen was ich eigentlich schon vorher hätte
wissen sollen, nämlich daß ich keines besaß. Also fahndete ich möglichst
unauffällig nach einem würdigen Ersatz, während Radagast in einem mir unverständlichen
Dialekt zu dem Anführer der Wachen sprach. Dabei blieb mein Blick auf einem der
Krieger haften. Nach meinen Erfahrungen mit den Bruchtal-Elben hätte ich nun
erwartet, diesen halb belustigt, halb schadenfroh grinsen zu sehen. Doch weder
er noch seine Kameraden verzogen auch nur leicht die Miene und ich fühlte mich
von ihren eisigen Blicken durchbohrt. Unbeeindruckt hielten sie ihre Pfeile
weiterhin auf uns gerichtet.
Befangen
senkte ich den Kopf. Diese Männer machten nicht den Eindruck, als ob man ihr
Vertrauen leicht gewinnen könnte. Abschätzend ließ ich mein inneres Auge über
mich gleiten. Ich gestand mir ein , daß ich fürchterlich aussehen mußte.
Schließlich war ich hochgradig erkältet, meine Augen trieften und meine Nase
war wund und rot. Außerdem hatte ich vier Wochen auf dem Pferderücken
verbracht, in meinen Kleidern geschlafen und mich nicht ein einziges Mal
gewaschen. Der Regen zählte nicht, der hatte mein Äußeres nur noch zusätzlich
unvorteilhaft beeinflußt. Ich war mir sicher, daß sich meine Haare von dieser
Vernachlässigung niemals erholen würden, und meine Haut war, wo nicht von
Kleidung, von Schmutz bedeckt. Wahrscheinlich sah ich einem Ork gerade
ähnlicher, als einem Menschen. Kein Wunder also, wenn die Elben mir so
feindselig begegneten. Ich sah mich bereits in eines dieser unkomfortablen
Felsenverliese gesperrt, mit denen die Zwerge auf ihrer Fahrt zum Einsamen Berg
Bekanntschaft geschlossen hatten.
Der kurze
Austausch zwischen den beiden Männern war beendet, bevor ich in Bezug auf meine
unangenehme Situation etwas hatte unternehmen können. Die Elbenkrieger senkten
auf ein Stichwort synchron die Waffen und diejenigen, die uns den Weg versperrt
hatten, traten zur Seite. Radagast nickte dem Anführer knapp zu und setzte
seinen Braunen in Bewegung. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Seufzend trieb ich Brasfaloth an und sah mich nach einigen Metern noch einmal
nach den kriegerischen Elben um. Sie waren alle auf dieselbe lautlose Weise
verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.
Die Bäume
standen hier weiter auseinander und wir konnten problemlos hindurch reiten.
Unauffällig wischte ich meine Hand an Brasfaloths regennassem Fell ab und
versuchte den zurückbleibenden haarigen Dreck an meiner Hose loszuwerden, die
sich in ihrem Zustand nicht wirklich dazu eignete. Angewidert verzog ich das
Gesicht und wandte mich von dem sinnlosen Unterfangen ab.
„Ist dies
das Waldelbenreich?“ krächzte ich heiser und nur, um endlich wieder irgend
etwas zu sagen.
Radagast
brummte geduldig.
Ich
suchte mit den Augen die Umgebung ab. Keine Ahnung, was ich zu finden hoffte.
Diese Begegnung soeben hatte mir gezeigt, daß auf jedem der umstehenden Bäume
ein Elb sitzen konnte, ohne von mir gesehen zu werden.
„Dann ist
Galvorn hier, nicht wahr?“
Radagast
schmunzelte nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen. „Du kannst an nichts
anderes mehr denken, oder?“
„Nein“,
gab ich ehrlich zu und überlegte kurz. „Radagast?“
„Hmm?“
„Ich kann
doch unmöglich so vor ihn treten!“
„Sei
nicht albern.“
Mein
Protest ging in einem Hustenanfall unter und danach versagte meine Stimme trotz
mehrmaliger Anstrengung, sie wiederzubeleben. Sie war einfach weg! Ich
räusperte mich energisch und hustete mit Nachdruck. Nichts! Alles was heraus
kam, war ein leises Flüstern, das Radagast auf die Entfernung und bei dem
Schritt der Pferde nicht hörte. Oder nicht hören wollte.
Na
großartig! Meine erste Begegnung mit dem Mann meiner Träume hatte ich mir
wahrlich anders vorgestellt! Ich war dem Heulen nahe.
Wir erreichten
jetzt den Eingang der Festung. Ein schweres eisenbeschlagenes Eichentor ohne
jegliche Verzierungen. Als wir darauf zuritten, öffnete es sich wie von selbst
und schloß sich hinter uns ebenso geheimnisvoll. Der große Höhlenvorhof war von
mehreren Fackeln spärlich erleuchtet. Mir fiel sogleich auf, daß diese im
Gegensatz zu jenen in Bruchtal sehr wohl rußten und Wände und Decke tiefschwarz
von ihren Ablagerungen waren.
Nachdem
wir die Pferde an einer düsteren Stallhöhle abgegeben hatten, wo sich ein
finster dreinblickender Mann ihrer annahm, stiegen wir im hinteren Teil des
Hofes eine kurze Treppe hinauf. Zwei Krieger kamen uns in voller Bewaffnung
geschäftig entgegengerannt und ich war mir nicht sicher, ob sie einen Bogen um
mich gemacht hätten, wäre ich nicht mit letzter mir noch zur Verfügung
stehender Kraft beiseite gesprungen.
So sah es
also in einem Elbenreich aus, das nicht die schützende Macht eines Ringes
genoß. Ich schürzte schmollend die Lippen. In Bruchtal hatte es mir entschieden
besser gefallen. Ich stempelte das Reich König Thranduils bereits als
unfreundliche Stätte mit beklemmender Atmosphäre ab, bevor wir überhaupt einen
Fuß in die eigentliche Wohnanlage gesetzt hatten. Vielleicht war es auch das
Fieber, das mich so vorschnell darüber urteilen ließ. Auf jeden Fall fühlte ich
mich nun doppelt unwohl.
Das
schnelle Ausweichmanöver forderte in einer heftigen Schwindelattacke seinen
Tribut. Kraftlos um mich tastend hob ich die Arme, taumelte rückwärts und
spürte, wie Radagast mich von hinten an den Ellenbogen ergriff und stützend an
sich zog.
„Du
brauchst jetzt Ruhe.“ Seine Worten drangen verschwommen an meine Ohren und
graue Nebelschwaden umhüllten meine Augen. Ich beschloß, sie einfach zu
schließen.
„Warum
mußten wir hierher kommen?“ hauchte ich schwach.
Ich
erwartete keine Antwort. Genaugenommen wußte ich nicht einmal, weshalb ich
überhaupt gefragt hatte. Ausgerechnet jetzt. Dafür gab es sicher in naher
Zukunft eine bessere Gelegenheit!
Umso
erstaunter war ich, tatsächlich eine Auskunft zu erhalten.
„Zu
deinem Schutz“, erklärte er knapp. „Die Gegend um Dol Guldur wurde zu
gefährlich. Ich wollte nicht riskieren, daß der Feind dich entdeckt. Meine
Kräfte, Rhosgobel vor seinen Spähern verborgen zu halten, sind beschränkt.“
Ich brauchte
eine Weile die Information zu verarbeiten, stellte meine Füße indessen parallel
und leicht gespreizt nebeneinander und machte es mir so ein wenig bequemer in
den Armen des Zauberers.
„Wäre
Lothlórien nicht näher gewesen?“ fragte ich unschuldig.
Radagast
schnaubte erbost aus und ich spürte seinen heißen Atem auf meinem Kopf.
„Näher?
Ja, vor allem für sie!“ grollte er.
„Okay,
war ne blöde Idee.“
„O- was?“
„Ich
meine, >gut<.“ Hey, brauchte ich wirklich nur ein englisches Wort zu
benutzen, um Radagasts Neugier zu wecken und seinen aufwallenden Zorn zu
verscheuchen? Interessant! Ich wollte grinsen, schaffte es aber nur zu einem
dümmlichen Lächeln.
„Können
wir jetzt weitergehen?“ Irrte ich mich oder klang der alte Mann verlegen? Nein,
es schien ihm tatsächlich unangenehm, nach der Art zu urteilen, wie er leise
hüstelnd versuchte, mich wieder auf die Beine zu stellen. In besserer
Verfassung hätte ich dies sicher irrsinnig komisch gefunden.
Ich blies
die angehaltene Luft durch den Mund, weil meine Nase zu verstopft war und mühte
mich ehrlich gerade zu stehen, aber meine Knie gaben nach, als wären sie aus
Gummi. Es blieb Radagast nichts anderes übrig, als mich zu tragen, wenn er mich
nicht einfach auf der Treppe liegen lassen wollte. Müde legte ich den schweren
Kopf an seine Schulter und seufzte erleichtert. Irgendwie wurde es hier in
Mittelerde langsam zur Gewohnheit, daß mich immer irgendwer aus irgend einem
anderen Grund tragen mußte...
Wo wir
hingingen sah ich nicht, da ich es nicht über mich bringen konnte, die
Augenlider zu heben. Eine Weile hörte ich nur Radagasts gedämpfte Schritte und
meinen rasselnden Atem. Wirre Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum, die
mich beschäftigten, ohne daß ich sie greifen oder in Worte fassen konnte und
eine zermürbende Unruhe ging von ihnen aus, das Gefühl, dringend etwas von
allerhöchster Wichtigkeit tun oder sagen zu müssen.
Ich
beschloß, mich abzulenken und schluckte den Schleim hinunter, der mich am
Sprechen, oder besser gesagt am Flüstern hinderte.
„Radagast?“
vergewisserte ich mich seiner Aufmerksamkeit und fuhr erst nach seinem
fragenden Brummlaut fort. „Wird Galvorn wissen wer ich bin, wenn ich in deiner
Gesellschaft komme?“ Natürlich nicht. Galvorn kannte mich doch überhaupt nicht!
Ich schlug mir innerlich auf die Stirn. Dann fiel mir ein, daß ich dies
offiziell gar nicht wissen durfte und versuchte, mich zu entspannen.
Radagast
schien seine Antwort sehr sorgfältig zu erwägen. Er war nicht darauf vorbereitet
gewesen, so bald eine Erklärung dafür finden zu müssen, erkannte ich
sarkastisch. Nun, vielleicht konnte ich dies jetzt zu meinem Vorteil nutzen und
den Spieß wie man so schön sagt umkehren. Ich hatte nämlich nicht die geringste
Lust, mich vorführen zu lassen, wie etwa in einer dieser peinlichen
Verkupplungs-Shows!
Flatternd
hob ich die Lider und blickte Radagast so unschuldig an, wie mir das in meinem
Zustand möglich war. Wenigstens brauchte ich nicht die Stimme, die gar nicht da
war, zu verstellen.
„Schließlich
wolltest du mich doch jetzt noch nicht hier her bringen, oder?“
„Hmm...“
„Und ich
könnte doch irgend jemand anderes sein, oder?“
„Hmmm...“
„Kennt er
eigentlich meinen Namen?“
„N-nein“,
gab Radagast ein wenig stockend zu. Dann blickte er mich aber doch mißtrauisch
an. „Das hört sich fast so an, als wolltest
du nicht, daß er dich erkennt?“
Ich
schüttelte andeutungsweise den Kopf. „Ich möchte nicht, daß er mich nur nimmt,
weil ich ihm versprochen bin. Ich möchte, daß wir einander kennenlernen. Ich
will herausfinden, ob da etwas ist, das uns verbindet, das es uns ermöglicht
einander zu lieben. Völlig unvoreingenommen. Verstehst du?“
Radagast
nickte nachdenklich. Ich schloß die Augen erneut und versuchte mein
gegenwärtiges Aussehen aus meinen Gedanken zu verdrängen.
„Ich
werde darauf achten, daß du vorzeigefähig bist, bevor du ihm das erste Mal
begegnest“, versicherte der Istar mir ernst und bestätigte wiederum meinen
Verdacht, Gedanken lesen zu können.
Zufrieden
grummelnd versank ich in einen leichten Halbschlaf. Hätte ich jedoch gewußt,
was Radagast mir mit Rücksicht auf meine derzeitige Schwäche verschwieg, hätte
ich sicher nicht so friedlich geschlummert.
~*~