„Das also
ist Legolas!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen, als er hinter den Sträuchern
verschwunden war, und erleichtert massierte ich mit der Handfläche meine Stirn.
Aufmerksam
blickte ich mich um. Die freie Rasenfläche wurde umrahmt von den dunklen hohen
Tannen Düsterwalds und zumindest auf dieser Seite hatte die Koppel – sofern man
sie als solche bezeichnen wollte – keinen Zaun. Die Waldelben schienen eine
Vorliebe für weiße Pferde zu haben. Na großartig! Es würde den ganzen
Nachmittag dauern, bis ich Brasfaloth in dieser großen Herde gefunden hatte.
Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt erkennen würde. Ich
hatte viel zu wenig Ahnung von Pferden, um sie anhand geringerer
Unterscheidungsmerkmale als ihrer Farbe zu erkennen. Eine markante Blesse oder
unterschiedliche Fesseln halfen manchmal dabei, nur eben nicht, wenn es sich um
einen blütenreinen Schimmel handelte. Bisher war mir nicht bewußt gewesen, daß
es auf der Welt überhaupt so viele schneeweiße Pferde gab!
„Mittelerde,
Elli, Mittelerde!“ korrigierte ich mich geistesabwesend und kaute nervös auf
meiner Unterlippe. Langsam setzte ich mich in Bewegung, schenkte allen Braunen,
Rappen oder anders gefärbten Tieren kaum Beachtung und ging auf jeden Schimmel
mit leise lockenden Schnalzgeräuschen zu in der Hoffnung, daß einer von ihnen
mir nicht ausweichen würde, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Dabei kam
ich mir reichlich dämlich vor.
„Hoffentlich
sieht dir jetzt bloß niemand zu!“ Ich drehte mich um und vergewisserte mich,
daß außer mir kein zweibeiniges Wesen zu sehen war. Woher ich bei meiner
Kurzsichtigkeit die Gewißheit nahm unbeobachtet zu sein, wußte ich selbst
nicht. Jedenfalls fühlte ich mich nach diesem kurzen Rundumblick wesentlich
wohler.
Nur wenig
später fiel mir auf, daß ich eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf einen
Rappen ausübte. Er folgte mir böse schnaubend wohin ich auch ging und blieb nie
mehr als zwei Schritte zurück.
Erst dachte
ich mir nichts dabei. Dann, als er aufdringlicher wurde, versuchte ich es mit
Ignorieren. Schließlich ging ich etwas schneller. Als ihn dies nur noch mehr zu
erzürnen schien, legte ich endlich einen kurzen Spurt ein, suchte Schutz hinter
dem Stamm eines Laubbaumes und schielte vorsichtig um die Ecke. Augenblicklich
spürte ich den heißen Atem des Hengstes im Gesicht und zog den Kopf bestürzt
zurück.
„Er hat
Angst du könntest ihm eine seiner Stuten stehlen.“
Ich
drehte mich um und sah niemanden. Verstört schüttelte ich den Kopf. Das hatte
nicht nach meiner inneren Stimme geklungen. Verlor ich jetzt wirklich den
Verstand?
„Was
suchst du eigentlich?“
Ich
fühlte einen leichten Luftzug neben mir, atmete zischend ein und fuhr herum.
Vor mir stand ein halbwüchsiger Elbenknabe und sah mit großen, ehrlichen
Kinderaugen zu mir auf. Langsam und zweifelnd wanderte mein Blick hinauf zum
Blätterdach.
„Aus dem
Boden gewachsen bin ich nicht!“ belehrte mich der Knabe altklug.
„Es
gehört sich nicht, jemanden so zu erschrecken!“ schulmeisterte ich ihn und
bemühte mich, in der vorwurfsvollen Bemerkung, meine Neugierde zu verbergen.
Dies war das erste Elbenkind, das ich zu sehen bekam... und das vielleicht
schon ebenso alt war, wie ich selber. Oder älter. Alterten die Erstgeborenen
nicht langsamer? Hatte der Meister sich nicht irgendwo in der Richtung
geäußert? Oder hatten sich all die Fanfiktion-Schreiber nur selbst einen Reim
darauf gemacht? Ich meine, es wäre irgendwo logisch, oder nicht? Andererseits
sträubte sich etwas in mir den Jungen, der vor mir stand und mich wie ein
ausgekochtes Schlitzohr angrinste, für älter als zehn Jahre zu halten.
Er strich
sich fahrig eine Haarsträhne hinters Ohr. Dabei fiel mir erstmalig auf, daß
Elbenohren nicht spitz waren! „Wollte
ich nicht. Ich hab nicht dran gedacht, daß die Zweitgeborenen so schlecht
hören.“
Ich
fixierte den Knaben mit hochgezogener Augenbraue und wartete. Statt der
Entschuldigung für die vermutet unabsichtlich beleidigenden Worte folgte jedoch
nur ein nachlässiges Schulterzucken und ein kurzes bedauerndes, feststellendes
Schürzen der Lippen. >Ist doch so<, drückte seine ganze Haltung aus.
Ich blies
halb entrüstet und halb amüsiert die Luft aus.
„Und ihr
seht auch nicht besonders gut.“
O-Oh! Kindermund
tut Wahrheit kund... Ich öffnete bereits den meinen, um den kleinen Bengel
zurechtzuweisen - denn ich fühlte mich ernstlich verletzt – da plapperte dieser
auch schon munter weiter:
„Onkel
Galvorn hat uns davon erzählt, aber so ganz hab ich ihm das nicht geglaubt.
Können
wir Freunde sein?“
Die
zornige Bemerkung erstickte mir im Hals und einen Moment lang vergaß ich das
Atmen, so daß meine Lungen sich leer anfühlten und mir die Brust zusammenzogen.
Der Knabe vor mir strahlte mich mit seinen treuen Augen und einem Lächeln, das
Steine hätte erweichen können, so erwartungsvoll an, daß ich regelrecht spüren
konnte, wie sehr eine ablehnende Antwort ihn enttäuschen würde.
„Onkel
Galvorn?“ erwiderte ich lahm, nur halb bei der Sache.
„Er ist
mein Freund!“ Der Junge nickte eifrig, ohne die Augen von mir zu nehmen.
„Dein...
Freund?“ Meine Brauen zuckten irritiert.
„Naja“,
er winkte nachlässig, „eigentlich ist er der Erzieher meiner kleinen
Geschwister...“ Ton und Gestik drückten deutlich aus, wie erwachsen er sich
bereits fühlte.
„Ah...“
Ich hingegen kam mir gerade recht dämlich vor. Ein vertrautes Gefühl, das mir
einen Teil meines Gleichmutes zurückbrachte.
„Natürlich
können wir Freunde sein“, beantwortete ich also endlich seine Frage und
widerstand dem Drang, ihm kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen.
„Fein!
Ich heiße Gilion und das dort ist Mornagil.“ Er deutete auf den Rappen, der
inzwischen um den Baum herumgekommen war und uns mit schiefgelegtem Kopf
beobachtete. „Er tut keiner Fliege was zuleide.“
„Ach
nein?“ zweifelte ich und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Doch
Mornagil schien nun tatsächlich ganz friedlich. Er wieherte leise und erhielt
von Gilion einen Apfel, mit dem er zufrieden kauend zurück zur Herde trottete.
„Woher
weißt du eigentlich, daß ich die elbische Sprache spreche?“ wunderte ich mich
plötzlich. Andernfalls hätte er mich doch sicher auf Westron oder, wenn er nur
nicht darüber nachgedacht hätte, dem hier gebräuchlichen Waldland-Dialekt
angesprochen.
„Du hast
Selbstgespräche geführt.“ Er grinste frech. „Tust du das häufig?“
Ich
räusperte mich verlegen. „Was... äh... machst du so alleine hier draußen?“
„Wieso
alleine?“ Gilion grinste noch breiter und bevor ich meine Verwirrung in Worten
ausdrücken konnte, nickte der Junge mit dem Kinn zu einer Stelle hinter mir und
flüsterte in warnendem Tonfall: „Nicht bewegen! Du bist umzingelt.“
Vorsicht
wandte ich mich um und sah mich einer Schar von Drei- bis Sechsjährigen gegenüber,
die mich mit Luftbögen in Schach hielt. Gespielt erschrocken hielt ich beide
Hände in die Höhe.
„Oh, oh
bitte tut mir nichts!“ bettelte ich und mußte schwer um meinen ernsthaften
Gesichtsausdruck kämpfen als ich bemerkte, wie sehr die Kleinen sich bemühten,
die selben drohenden Mienen zu zeigen wie die erwachsenen Krieger draußen vor
dem Tor.
„Was
suchst du hier in unserer Festung?“ piepste ein unglaublich süßer kleiner Fratz
und mit ungewöhnlicher geistiger Beweglichkeit erkannte ich den Baum als
benanntes Bauwerk. Ein Verdienst, der nur dadurch geschmäht wurde, daß der
Knirps bei seinen Worten mit der ausgestreckten Hand auf ihn wies.
„Ich
wollte nicht in eure Festung eindringen“, versicherte ich dem strengen Anführer
und ging in die Hocke, um nicht gar zu sehr auf ihn herabsehen zu müssen. „Ich
suche mein Pferd.“
„In unserer Festung?“ Der Kleine
verschränkte die Arme vor der Brust wie er es von den Erwachsenen gesehen haben
mochte, ohne zuvor seinen imaginären Bogen abzulegen.
Ich
seufzte theatralisch. „Ich muß mich verlaufen haben.“ Ein klägliches Schluchzen
sollte den Beschützerinstinkt des tapferen Kriegers wecken.
Der
betrachtete mich noch eine lange Weile zweifelnd und gab seinen „Männern“
schließlich mit einer Handbewegung den Befehl, die Bögen zu senken.
„Die
Zweitgeborenen haben nämlich auch keinen besonders ausgeprägten
Orientierungssinn“, stellte Gilion seelenruhig fest und klopfte mir nun
seinerseits beruhigend auf die Schulter, was dadurch möglich war, daß ich noch
immer am Boden kniete.
„Mach dir
nichts draus. Ich mag dich trotzdem.“
Ich
verdrehte die Augen, kam aber nicht dazu etwas zu erwidern, da ich sogleich von
einer aufgeregten Kinderschar umlagert wurde.
„Du bist
ein Mensch? Wirklich? Wie heißt du denn?“ riefen die Knirpse durcheinander und
einer von ihnen streckte prüfend einen Finger nach mir aus wie um zu testen, ob
ich auch aus Fleisch und Blut war.
„Mein
Name ist Elanor“, schmunzelte ich. „Und wie heißt ihr?“
„Haldor –
Berigond – Mornel – Anarion“, riefen alle durcheinander. Es war unmöglich sich
alle Namen zu merken und auch noch die passenden Gesichter dazu.
Interessanterweise
verstanden und sprachen sie alle reines Sindarin. Galvorns Verdienst, vermutete
ich.
„Und was
macht ihr hier draußen? Ich meine, sollte nicht jemand auf euch aufpassen?“
Erst als die Worte schon heraus waren bemerkte ich, daß dies keine taktisch
sehr kluge Fragestellung war.
„Wir sind
Flüchtlinge!“ erklärte Gilion jedoch bereitwillig.
„Flüchtlinge?“
Ich blickte noch dämlicher drein, als es selbst für mich üblich war und
verstand überhaupt nichts.
„Naja...“,
der Knabe machte eine vage Geste in Richtung des unterirdischen Palastes, „ich
hab dir doch von meinem Freund Galvorn erzählt...“ - Eine kurze Pause, die ich mit
einem dümmlichen Nicken füllte – „Er ist nach Bruchtal gereist, um seine
Familie zu besuchen.“
Erwartungsvoll
sah ich den Jungen an, doch es folgte keine weitere Erklärung.
„Aah...?“
dehnte ich in der Hoffnung, daß dieser hilflose Laut ihn zu einer solchen
animieren würde.
„Celthor“,
erklärte statt dessen ein Dreijähriger und nickte kläglich.
„Celthor?“
„Ja,
Celthor!“ bestätigte ein anderer Junge und blickte noch gequälter drein.
„Was ist
mit ihm?“
„Er
spielt immer so blöde Weiberspiele mit uns!“ jammerte ein dritter und ein
vierter schüttelte nur mißbilligend den Kopf.
„Das ist
sooo erniedrigend!“
Erfolgreich
rang ich einen Lachanfall nieder. „Und da seid ihr natürlich geflüchtet!“
„Natürlich!“
„Was
haltet ihr davon: Wenn ihr mir helft, mein Pferd zu finden, spiele ich mit
euch.“
„Kannst
du das denn?“ Kritisch musterten mich die Kinder.
„Na hört
mal!“ Beleidigt stemmte ich die Hände in die Hüften. „Seh ich vielleicht aus,
als würde ich Weiberspiele spielen?“
Skeptisch
inspizierten sie meine Lederkluft und nach und nach hellten sich die Gesicht
auf.
„Nein!“
bekannten sie einstimmig.
„Prima!
Dann suchen wir jetzt zuerst den Schimmel der edlen Dame!“ kommandierte Gilion
mit einer spöttischen Verneigung. „Dein Pferd ist doch weiß, nicht wahr?“ Die
letzten Worte waren leise an mich gerichtet und der amüsierte Tonfall zeigte
mir deutlich, daß er keine Antwort erwartete. Ein guter Beobachter! Ich grinste
schief und schwieg.
Kurz
darauf stob die ganze Bande auseinander.
„Das
dauert nicht lange. Du solltest dir also bereits was ausdenken“, riet Gilion.
Ich
überblickte die stattliche Herde. „Wie wollen sie mein Pferd überhaupt
herausfinden?“
„Och, das
ist leicht. Es ist das einzige, das nicht zur Herde gehört.“
„Willst
du damit sagen, sie kennen alle
Pferde?“ staunte ich.
„Selbstverständlich!“
Wie
konnte ich aber auch so dumm fragen!
Tatsächlich
dauerte es keine fünf Minuten, bis die Kinder geschlossen zurückkamen,
Brasfaloth in ihrer Mitte. Der Hengst begrüßte mich halbherzig, nahm aber dennoch
dankbar die kleine Leckerei, die ich aus meiner Hosentasche hervorzauberte.
Jetzt kam
es mir zugute, daß ich mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen und in der Tat
selten oder überhaupt keinen sogenannten Weiberkram gespielt hatte. So fiel es
mir nicht allzu schwer, einen munteren Strategieplan auszuhecken, der nach
einigen Modifikationen selbst die Zustimmung der anspruchsvollen Elbenkinder
fand.
So
verging der Nachmittag wie im Fluge und ich konnte danach mit Zuversicht
behaupten, daß nicht nur ich mich großartig amüsiert hatte. Die Kinder waren
völlig aufgedreht, als wir uns endlich gemeinsam und erst nachdem ein ziemlich
aufgelöst dreinblickender Elb uns gefunden und zum wiederholten Male auf die
Zeit zum Abendbrot hingewiesen hatte, zum Speisesaal aufmachten. Dabei mußte
ich hoch und heilig versprechen, daß wir am nächsten Tag da ansetzen würden, wo
wir heute unser Spiel hatten unterbrechen müssen.
Glücklich
und beschwingt folgte ich den Kleinen zum Speisesaal. Erst jetzt fiel mir auf,
daß die letzten Spuren meiner langen Krankheit verschwunden waren und ich mich
die ganze Zeit nicht ein einziges Mal schwach gefühlt hatte.
Der
Anblick des ungebetenen Besuchs, der inmitten einer Schar vor Vergnügen
krähender Kinder die Halle betrat, zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich
und nicht wenige mißbilligende Augenbrauen in die Höhe. Am liebsten hätte ich
auf dem Absatz kehrt gemacht und mein Zimmer aufgesucht, aber zum einen kam
diese Überlegung reichlich spät, zum anderen hätte ich den Weg dorthin alleine
gar nicht gefunden. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich von den Kindern
zu einem freien Platz an der langen Tafel drängen zu lassen. Am Kopfende
vermutete ich den König und seine nächsten Verwandten. Viel erkennen konnte ich
natürlich wieder einmal nicht, wofür ich ausnahmsweise sehr dankbar war.
Da die
Knaben sich alle auf die Sitze um mich herum verteilten, ragte ich unangenehm
isoliert zwischen ihnen hervor und suchte vergeblich nach einer Möglichkeit,
mich unauffällig vor den Blicken der Waldelben zu verbergen. Dabei waren diese
nicht einmal feindlich, sondern ungläubig, fragend oder einfach nur neugierig
auf mich gerichtet. Ich nickte schüchtern in die Runde. Mein Hunger war
plötzlich mit meiner guten Laune verflogen. Da half es auch nichts, daß sich
nach einigen sehr langen Minuten Radagast zu uns gesellte.
Zufrieden
vor sich hin schmunzelnd schob der Istar sich einen Stuhl zurecht und bediente
sich ungeniert an einer Karaffe mit dunklem, rotem Wein, von denen mehrere in
gleichmäßigen Abständen auf den Tischen verteilt waren und die er hier zwischen
all den Kindern für sich alleine hatte. Naja, beinahe. Ich hielt ihm meinen
Krug hin und er füllte ihn bis zum Rand.
„Wie ich
sehe habt ihr euch gut amüsiert.“ Dem Tonfall nach zu urteilen nicht halb so
gut wie er dies gerade jetzt tat.
Ich trank
einen ausgiebigen Schluck. „Was...“, setzte ich an und wurde von den Kindern
unterbrochen, die dem Zauberer bereitwillig und voller Begeisterung von unserem
Spiel erzählten.
Radagast
ließ mich die ganze Zeit über nicht aus den Augen, auch dann nicht, als er die
schwere Obstschale näher zu sich heranzog und eine Weintraube nach der anderen
den Weg zwischen seine zu den Ohrläppchen strebenden Lippen fand.
Irgendwann
hatte er es geschafft mich so in Hypnose zu starren, daß ich mir ebenfalls ein
paar Trauben von der Schale nahm.
„Sind sie
nicht allerliebst?“ schmunzelte er auf deutsch.
„Ja, eine
reizende kleine Rasselbande“, erwiderte ich und meinte es keineswegs so
ironisch wie es klang.
Radagast
lachte leise auf. „Galvorn wäre stolz auf dich!“
Ich
errötete bis zum Haaransatz, trank meinen Becher in einem einzigen langen Zug
aus und hielt ihn dem Istar zum Wiederauffüllen entgegen – entschied mich dann aber
anders und winkte nachlässig ab. Schließlich wollte ich den Kindern kein
schlechtes Beispiel geben und außerdem konnte ich mir für den nächsten Tag
keinen Katzenjammer leisten. Es galt ein Versprechen einzulösen.
Also
griff ich nach dem Wasserkrug und goß mir von diesem ungefährlichen Getränk
ein.
„Immerhin
kann ich mich auf diese Weise ein wenig nützlich machen. Hoffe ich
zumindest...“ Ich dachte an den ungehaltenen Gesichtsausdruck des
Ersatzkinderhüters, als er mitten in unser fröhliches Treiben geplatzt war und
rümpfte die Nase. Vermutlich hatte ich mir wenigstens einen wirklichen Feind im
Waldelbenreich geschaffen. Irgendwie war es zur Abwechslung ein gutes Gefühl zu
wissen, weshalb man nicht gelitten war.
„Oh, um
Celthor würde ich mir keine Gedanken machen“, zerstreute Radagast meine
Bedenken, „Er fühlt sich ein wenig in seiner Ehre angegriffen, aber im Grunde
genommen ist er mehr als froh, wenigstens einen Teil seiner unfreiwilligen
Pflichten los zu sein. Wenn es nach ihm ginge, könntest du wahrscheinlich die
Mädchen gleich mit übernehmen und die Säuglinge dazu.“
„Seh ich
so aus als ob ich drei Köpfe und sechs Arme hätte?“ maulte ich entrüstet.
„Galvorn
schafft es immerhin auch mit den ihm von Eru gegebenen Mitteln und macht sich
nebenbei noch als Heiler nützlich.“
„Er ist
auch ein Elb“, schmollte ich halbherzig. Tatsächlich stieg mein Zukünftiger
gerade haushoch in meiner Achtung. Wie brachte er das nur alles unter einen
Hut?
Unsere
für die Kinder in fremder Sprache geführte Unterhaltung war übrigens völlig
ihrer Aufmerksamkeit entgangen, da sie sich längst irgend einem anderen Thema
zugewandt hatten, welches sie eifrig diskutierten und das sich wiederum meiner
Kenntnis entzog, da sie ihrerseits den Waldelben-Dialekt gebrauchten.
Nach und
nach wurden die Gespräche um uns lauter und weinseliger. Im Gegensatz zu den
Bruchtalelben hielten es ihre östlichen Verwandten wohl nicht für nötig, für
ihre spätabendliche Geselligkeit einen separaten Saal aufzusuchen. Vielleicht
waren solche aber in dem unterirdischen Palast auch nicht so reichlich
vorhanden.
Während
ich noch überlegte, ob diese Gesellschaft das rechte Milieu für die Kinder war,
wurden sie von ihren Müttern abgeholt. Ich kam mir dabei ein wenig vor wie eine
Kindergärtnerin in unseren Landen, die den Tag über auf die Bengel geachtet
hat, um sie dann wieder ihren Familien anzuvertrauen. Wir wünschten einander
>Gute Nacht< und der kleine Anarion drückte mir sogar einen sehr feuchten
Kuß auf die Wange.
Als sie
mit ihren Müttern von dannen zogen – die mich übrigens kaum eines Blickes
gewürdigt hatten – betrachtete ich mir diese etwas näher. Sie machten einen
übertrieben hochnäsigen Eindruck und schienen der obersten Schicht anzugehören.
Aber das war eigentlich keine allzu große Überraschung.
Forschend
blickte ich Radagast an, der soeben einen kräftig geräucherten Schinken für
sich entdeckt hatte und mit einem scharfen Messer dicke Streifen
herunterschnitt.
„Erinnerst
du dich an unser Gespräch in Bruchtal?“ Ich drehte den Krug in meiner Hand und
betrachtete bedauernd den faden Inhalt.
„Welche
Stelle meinst du?“ fragte Radagast ohne aufzublicken, aber indem er
demonstrativ zurück in die elbische Sprache fiel.
„Die, an
der du dich über die affektierten Höflinge aufgeregt hast.“
„Ah...
die...“, hielt er es nun doch geratener, die Unterhaltung weiter auf deutsch zu
führen.
Ich
nickte.
Als zur
Abwechslung einmal ich mich nicht
näher erklärte, sah Radagast endlich von seinem Abendmahl auf.
Ich lächelte
still in mich hinein. Ich hatte meinen Wein zu schnell hinuntergeschüttet und
so zeigte selbst die doch geringe Menge bereits ihre Wirkung. Ich fühlte mich
großartig. Nicht zuletzt, wegen dieser wenn auch geringen Genugtuung.
>Jetzt
weißt du, wie ich mich ständig fühle!< dachte ich bei mir und
beglückwünschte mich insgeheim zu dem gelungenen Schachzug.
Radagast
legte die Stirn in nachdenkliche Falten, entschied schließlich, daß sich eine
Nachfrage nicht lohnte und widmete sich weiter seinem Schinken.
Meine
Vergeltung verlor somit augenblicklich an Bedeutung und da zu gleicher Zeit
mein Wasser zur Neige ging, ergriff ich kurzerhand die Weinkaraffe. Diesmal
genoß ich den schweren Roten langsamer und stellte fest, daß Thranduils Weine
nicht umsonst so gelobt wurden.
„Ist der
aus Esgaroth?“ verlangte es mich zu wissen. Das folgende Grummeln des Zauberers
hätte man gut und gerne in jede beliebige Richtung auslegen können. Ich
entschied mich, es als >ja< zu werten.
„Hast du
schon darüber nachgedacht, wann wir dorthin reisen?“ fragte ich rundheraus.
„Nach
Esgaroth?“ Radagast versuchte gerade ein Stück Schinken von dem abgeschnittenen
Streifen zu beißen und preßte seine Worte durch die kämpfenden Zähne.
„Ach, sag
bloß du hattest nicht vor, mich dorthin zu verschleppen?“ stellte ich mich
erstaunt. „Wie wäre es mit Gondor? Oder Rohan? Hast du nicht einen Grund mich
in den Fangorn zu bringen?“
„Du bist
heute in einer wahrlich eigenartigen Laune...“ Radagast blieb völlig ruhig und
ließ die versteckten Vorwürfe einfach an sich abprallen.
Ich
seufzte. „Tut mir leid. Es ist nur...“ Ich zuckte resigniert die Schultern und
seufzte noch kläglicher.
„Ich
weiß“, lenkte der Zauberer ein, „ich weiß...“
~*~