Also, wo
war ich stehengeblieben? Ach ja. Gollum war im Waldlandreich angekommen. Ebenso
Gandalf und Celeborns Boten. Letztere waren in den Büchern zwar nicht vorgesehen,
aber was kümmerte es mich? Sicher hatte Meister Tolkien sie nicht für
erwähnenswert befunden. Aber dann, drei Tage später, nachdem Gandalf wieder
abgereist und die Anwesenheit der Boten noch immer nicht geklärt war, erschien
noch jemand im Felsenpalast.
Ein
Betrieb war das hier! Wie auf dem Kölner Hauptbahnhof!
Es war
ein alter Mann, der ganz in blau gekleidet ging. Die meisten Elben schenkten
ihm keine Beachtung und scheinbar verfolgte er keinen anderen Zweck als den,
sich vor seiner Weiterreise auszuruhen. Hm... sagte ich in >blau<?
Ungewöhnlich wenn man bedenkt, daß hier alle Farben aus natürlichen Stoffen
gewonnen wurden, nicht wahr?! Ich hatte keine Ahnung, wie man überhaupt an
einen Blauton herankam, was natürlich nichts heißen mußte. Jedenfalls wurde ich
das Gefühl nicht los, daß es hier nicht allzu viele blaugefärbte Gewänder geben
konnte. Es mußte entweder eine sehr kostspielige Farbe sein, oder... nun, wir
wissen alle, wer in Mittelerde in
Blau rumlief, oder?
Meine
Neugierde war geweckt. Und da es mir nach wie vor nicht gelungen war, einen
Blick auf Gollum zu werfen, ich Gandalf vergeblich tagelang aufgelauert hatte,
bis er eines morgens einfach spurlos verschwunden war, und ich darüber hinaus
völlig frustriert einsehen mußte, daß ich aus eigenem Antrieb niemals etwas
über die Lórienboten erfahren würde, heftete ich mich bei der nächstbesten
Gelegenheit an die Fersen des neuen Besuchers.
Ich fand
ihn, ganz in sich versunken, unter der mächtigen Eiche auf der Lichtung. Der
letzte Schnee war geschmolzen und zu seinen Füßen reckten die ersten Krokusse
ihre Blüten der sanften Frühlingssonne entgegen. Auf einem Ast im Baum
schmetterte ein Buchfink sein durchdringendes Lied und vom Übungsplatz herüber
erschollen die Stimmen und das Waffengeklirr der trainierenden Elben. Galvorn
war mit den Kindern heute im Schutz mehrerer bewaffneter Krieger auf einer
Naturerkundungs-Tour in der näheren Umgebung, und die Kleinkinder befanden sich
ausnahmsweise in der Obhut ihrer sonst so vielbeschäftigten Mütter.
Ich
selbst hätte Galvorn begleiten können, hatte heute aber wie gesagt etwas
anderes vor.
„Hallo“,
grüßte ich salopp und blieb in respektvollem Abstand vor dem Alten stehen.
Nicht einmal ich benahm mich so ungehörig, mich einfach unaufgefordert einem
Fremden aufzudrängen.
Er hob
bedächtig seinen Kopf und sah mich wortlos an. Sein eben noch abwesender Blick
klärte sich auffallend, wurde forschend und seine Augen bohrten sich wie zwei
glühende Eisen in die meinen. In einem plötzlichen Erkennen schnalzte er mit
der Zunge, nickte verstehend und ließ ein bestätigendes Brummen hören.
Erschrocken
wich ich zwei Schritte zurück. Einen Augenblick lang dachte ich bereits, der
Alte hätte meine außer-mittelirdische Art erkannt, doch dann kicherte er
plötzlich lustig.
„Oh, wie
schön! Ein Menschenkind!“ freute er sich, als wäre dies eine weltbewegende
Entdeckung.
„Ähm...“,
stotterte ich, „ja.“ Mehr fiel mir dazu nicht ein.
„Komm,
setz dich zu mir. Ich bin schon lange ohne Gesellschaft und einen solch schönen
Tag wie den heutigen, sollte man mit jemandem teilen.“ Der Alte lächelte
einnehmend. „Setz dich!“ forderte er mich noch einmal auf.
Zögernd
trat ich näher, blieb jedoch stehen.
„Wer bist
du?“ fragte ich und musterte ihn zweifelnd.
„Pallando,
nennt man mich in diesen Gefilden“, antwortete der Mann heiter und strahlte mit
der hellen Sonne um die Wette.
Also
doch? Pallando? Einer der blauen Zauberer? Ich glotzte ihn an wie ein
dreihöckriges Kamel, was in diesem Moment weniger daran lag, daß die Blauen
eigentlich in den Osten gegangen und niemals wiedergekehrt waren, als an dem
naiven und irgendwie leicht vertrottelten Gebaren des Istar. Irritiert ließ ich
mich nun doch neben ihn ins Gras sinken.
„Und wie
nennt man dich in dieser Welt?“
„Wie?“ Hatte
er etwa doch etwas bemerkt? „Ich...
also, die... die Elben nennen mich Elanor“, antwortete ich lahm.
„So,
Elanor“, echote er. „Welch schöner Name!“ Er schlug freudig klatschend die
Hände aufeinander.
Hä?
Ziemlich verdattert betrachtete ich ihn von der Seite. Pallando hatte angenehme
Gesichtszüge, wenn man sie auch nicht wirklich als schön bezeichnen konnte.
Sein Mund war von jener auffallenden Form, deren Winkel immerfort zu einem
Lächeln streben und seine Augen waren ebenso blau wie sein Gewand. Ein dümmlicher
Glanz lag darin. Bildete ich mir ein. Nein, wie ein Ausbund der Klugheit sah
Pallando eigentlich nicht aus...
„Ist das
nicht ein herrlicher Tag!“ wiederholte er mit einem irren Kichern. Sein
Zeigefinger hüpfte durch die Luft und zeichnete dort die Sprünge eines
Heupferdchens nach, das von seinem Ausruf aufgeschreckt das Weite suchte.
„Mhm!“
stimmte ich ihm zu und bestätigte mir gleichzeitig mit einem >Nein< mein
eben gefaßtes Urteil. Pallando war offensichtlich nicht besonders helle. Wohin
er wohl unterwegs war?
„Ich
werde den Obersten meines Ordens besuchen.“
Ähm...
ja. Gedanken lesen konnte er trotzdem...
Der
Oberste seines Ordens?
„Du... du
reist doch nicht etwa nach Isengart?“ platzte ich heraus.
„Oh,
freilich!“ Pallando pflückte einen frischgrünen Grashalm und rieb ihn prüfend
zwischen Daumen und Zeigefinger. „Wir sind dazu angehalten uns alle fünfzig
Jahre bei unserem Obersten einzufinden und zu berichten.“ Er klang heiter, als
sei dies eine besondere Ehre oder eine angenehme Pflicht.
Ich
stöhnte. Auch das noch! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Jetzt sollte der
Verräter Saruman auch noch die Unterstützung eines zwar schwachsinnigen, aber
deshalb vielleicht nicht weniger mächtigen Zauberers bekommen?!
Ich
überlegte fieberhaft, wie ich dies verhindern könnte.
Doch
nein.
Ich
entspannte mich.
Saruman
hatte nicht einmal den Versuch gemacht Radagast für sich zu gewinnen, weil er
ihn für zu einfältig hielt. Also würde er mit Pallando erst rechts nichts
anfangen wollen.
Trotzdem!
Die Blauen
hatten in dieser Geschichte überhaupt nichts verloren! Und hatte Radagast nicht
gesagt: die Vergangenheit durfte nicht verändert werden?! Zwar hatte ich keinen
blassen Schimmer, wie dies hatte passieren können, aber hier war ganz
offensichtlich etwas durcheinandergeraten! Ich atmete tief durch und grinste
nicht weniger irrsinnig als der Alte neben mir. Zum Glück war ja nun Mary-Sue
da, die das wieder geradebiegen konnte!
Innerlich
rieb ich mir begeistert die Hände. Endlich, endlich konnte ich einmal etwas
Nützliches tun. Ich bemühte mich, an nichts anderes als das herrliche Wetter
und den Piepmatz da oben auf dem Baum zu denken. Das Lied des Buchfinks
vollführte soeben einige kunstvolle Triller. Ich hatte überhaupt nicht gewußt,
daß diese kleinen Kerle zu solch wundervollen Melodien fähig sind. Jetzt fügte
er seinem Lied ein paar einzelne Pfiffe hinzu, die wie die zählenden Schläge
eines Glöckchens klangen.
Dabei kam
mir eine Idee. Wie, wenn ich Pallando einreden konnte, daß er ein Jahr zu früh
dran war? Würde er dann nicht zurückreisen und erst im nächsten Jahr
wiederkommen? Dann wäre der Krieg vorüber und er mochte gehen wohin er wollte.
Gedankenverloren
rupfte ich ein Gänseblümchen aus und stahl dem armen Ding die weißen
Blütenblättchen einzeln, wobei ich ganz unauffällig zählte.
„Tu das
nicht! Nur Orks zerstören mutwillig schöne Dinge!“ schmollte Pallando traurig
und für ein oder zwei Sekunden verschwand der Wahnsinn aus seinen Augen.
Ich
räusperte mich verlegen, lehnte mich zurück ins weiche Gras und verschränkte
die Arme unter dem Kopf. Der Himmel war strahlend blau. Kein Wölkchen weit und
breit. Die dunklen Tannen Düsterwalds schoben ihre uralten Zweige in den
äußersten Rand meines Gesichtsfeldes und gleich über mir wiegte sich ein noch
dürrer Ast der großen Eiche im Wind. Ein einzelnes braunes Blatt hing noch
daran, das den Stürmen des Herbstes und Tücken des Winters getrotzt hatte. Mit
ein wenig Phantasie sah es aus wie ein großer schwebender Heißluftballon. Ich
seufzte sehnsüchtig. Schön mußte das sein, einmal so zu fliegen. Einmal um die
Welt, wie dieser reiche Mann in Jule Vernes Roman.
Oh! Das
war es! Ich schoß hoch wie eine Feder. Der war doch mit seinem Diener nach
Osten gereist, der Sonne entgegen und als sie wieder zuhause angekommen waren,
hatten sie dabei 24 Stunden gewonnen! Wenn sie das nun fünfzig Jahre lang
wiederholt hätten? Das waren 48 Stunden bei 160 Tagen und 94 bei 320 und... Ich
beendete meine Berechnungen mit einem unwilligen Kraftwort als ich bemerkte,
daß dies bestenfalls gelingen konnte, wenn man eben unentwegt auf der Reise
nach Osten war. Nicht aber, wenn man sich dort nur aufhielt. Ich sank wieder
zurück ins Gras.
Erneut
suchten meine Augen den Blick des Alten. Der hatte sich überhaupt nicht von
meinem Ausbruch stören lassen und unterhielt sich gerade angeregt mit einer
Butterblume. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Pallando hatte eindeutig seinen
Verstand verloren. Armer Kerl! Andererseits... mir konnte es schließlich nur
recht sein. Ich beschloß, es einfach auf einen Versuch ankommen zu lassen.
„Dann
warst du im Jahr 2967 zum letzten Mal bei Saruman, richtig? Lebte er zu dieser
Zeit bereits in Isengart?“ fragte ich wie nebenher.
Einige
Augenblicke herrschte Stille.
„Zweitausendneunhundert-acht-undsechzig.“
„Wie?“
heuchelte ich.
„Im Jahr
2968. Und ja, zu dieser Zeit wohnte Saruman bereits seit einigen Jahren dort“,
berichtete er bereitwillig.
„Du mußt
dich irren.“ Ich zählte kompliziert an meinen Fingern herum. „3017 weniger 50
sind 2967!“ erklärte ich mit unüberhörbarem Stolz, nachdem ich mich bestimmt
dreimal verhaspelt und scheinbar beide Hände beliebig durcheinander geworfen
hatte.
Als ob
mich das Ganze nicht weiter interessierte, schloß ich die Augen, pfiff wie ein
Handwerksbursche mit den Vögeln um die Wette und hoffte derweil inständig, der
Alte würde den Köder schlucken.
„Ja,
haben wir denn erst das Jahr 3017?“ wunderte er sich planmäßig.
Mühsam
unterdrückte ich meinen Triumph und nickte bestätigend.
„Wie kann
das sein? Dann habe ich mich ja in den Jahren verzählt!“ Pallando stellte meine
Zeitangabe nicht einmal in Frage. Wunderbar!
Ich
wandte mich zur Seite und stützte mich auf dem Ellenbogen auf. Übertrieben
legte ich dann die Stirn in Falten und machte ein sehr nachdenkliches Gesicht.
Der Alte
beobachtete mich erwartungsvoll mit großen Augen.
„Hast du
die letzten Jahre vielleicht weit im Osten gelebt?“
„Ja.
Woher weißt du das?“
„Nun“,
ich setzte mich auf, „das erklärt warum du ein Jahr gewonnen hast. Ist es dir
noch nicht aufgefallen, daß die Sonne im Osten aufgeht?“
Er
überlegte eine Weile. „Ja, richtig!“ freute er sich kindlich über die eigene
Erkenntnis.
„Es ist
ganz einfach“, behauptete ich dreist. „Die Sonne geht also im Osten auf. Damit
beginnt der Tag dort um eine Stunde früher als im Westen. Am nächsten Tag, sind
das im Ganzen bereits zwei Stunden und...“
Frechheit
steh mir bei! betete ich und rechnete munter drauf los. Ließ ein paar
fachmännisch klingende Wörter einfließen, die ich in einer von Legolas’
Unterrichtsstunden zur Berechnung der Flugbahn eines Pfeiles aufgeschnappt
hatte und die sich meiner bescheidenen Meinung nach hervorragend für die
Beschreibung meiner imaginären Umlaufbahn von Sonne, Mond und Sternen eigneten.
Es klang jedenfalls sehr imponierend wie ich fand und herrlich kompliziert und
nur jemand, der meinen völlig verblödeten Ausführungen mit klarem Verstand
folgte, konnte erkennen, welch einen Unfug ich da von mir gab.
Nun,
Pallando gehörte glücklicherweise nicht dazu. Am Ende meines halbstündigen
Vortrages war er vollständig davon überzeugt, ein Jahr zu früh unterwegs zu
sein und reiste noch am selben Tag wieder ab. Nach Osten!
Munter
pfeifend und mit mir selbst außerordentlich zufrieden, wanderte ich den Gang
entlang. Das wäre geschafft!
~*~