Radagast
tobte. Gleich nach seiner Rückkehr aus den Tiefen Düsterwalds hatte ich ihm
meinen elbenfreundlichen Gollum-Fluchtplan erläutert und ihm bei dieser
Gelegenheit auch gleich ganz stolz davon berichtet, wie ich Pallando erfolgreich
zurück in den Osten geschickt hatte.
„Weißt
du, was du da angerichtet hast?“ polterte er und ich war froh, daß wir uns in
meinem Zimmer befanden, wo uns niemand hören konnte. „Hatte ich dir nicht
ausdrücklich befohlen, nicht an den Ereignissen herumzupfuschen?“
Mit
schweren Schritten stampfte er im Raum auf und ab, rang die Hände zur Decke und
begann in einer mir fremden Sprache zu schimpfen daß ich glaubte, die massiven
Steinwände müßten unter der Gewalt seiner Worte über mir zusammenbrechen. Sogar
die Sonne flüchtete sich hinter eine dicke Wolke und ließ uns im Halbdunkel
zurück, was die Szene nur noch unfreundlicher gestaltete und mich an einem
guten Ende für meinen gesundheitlichen Zustand zweifeln ließ. Verschüchtert
drückte ich mich in eine Ecke, wo ich hoffen konnte, nicht von dem rasenden
Zauberer wie von einer schnaufenden Dampfwalze plattgefahren zu werden.
Radagast
war außer sich vor Wut. Dabei konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären,
weshalb. Was hatte ich denn getan? Nichts. Gar nichts hatte ich unternommen um
meinen, wie ich fand äußerst gelungenen, Plan einzuleiten. Ich gebe zu, ich
hatte bereits vor zwei Tagen den starken Drang danach verspürt, mich aber dann
ganz tapfer überwunden und darauf gehofft, der Zauberer würde recht bald
zurückkehren, so daß ich erst alles mit ihm durchsprechen konnte.
„Dann
findest du die Idee nicht gut?“ wagte ich endlich doch zu fragen, als er sich
ein klein wenig beruhigt zu haben schien.
Das hätte
ich nicht tun sollen. Wirklich nicht. Das Gewitter brach sogleich mit neu
entfachter Macht und Gewalt über mich herein.
„Wie
konntest du Pallando solch einen Unsinn einreden?“ empörte er sich Minuten
später.
Ich hob
schwach die Schultern.
„Keine
Ahnung. Ich dachte ja auch zuerst, er würde mir das niemals abkaufen, aber...“
schniefte ich weinerlich und automatisch fiel ich dabei zurück in meine
Muttersprache. Ein sicheres Zeichen dafür wie verwirrt ich war.
„Weißt
du, was du da angerichtet hast?“ wiederholte Radagast seinen Vorwurf, diesmal
mit einem resignierten Seufzer, und ließ sich entmutigt auf mein Bett sinken.
Ich
schüttelte den Kopf und wischte mit dem Ärmel über die Tränen, nur um sie im
ganzen Gesicht zu verteilen und meinen Blick noch weiter zu trüben, denn
mittlerweile quoll das Naß in wahren Strömen aus meinen Augen. Zitternd kauerte
ich mich auf dem Boden zusammen. Ich wußte noch immer nicht, was ich Böses
getan hatte, aber es mußte etwas ganz Fürchterliches geschehen sein.
Radagast zog
seine Pfeife hervor und stopfte sie ungeachtet des strickten Rauchverbotes in
meinem Schlafzimmer. Ich hütete mich diesmal sehr davor, etwas dagegen
einzuwenden. Mit den ersten nebligen Kringeln verzog sich auch seine gröbste
Wut hinauf zur Decke und durch die schmalen Fensterschächte hinaus.
„Mir
bleibt keine andere Wahl“, maulte er. „Ich muß versuchen das wieder zurecht zu
rücken.“
Ich
verstand kein Wort. War denn jetzt nicht alles so wie es sein sollte?
„Nein!
Das ist es nicht!“ zischte Radagast. „Pallando hätte Saruman aufsuchen müssen!
Das hat er nämlich getan, bevor du ihn davon abgehalten hast!“
Ähm...
Hat er?
„Ja!
Denke dir, das hat er tatsächlich! Und wieso hätte er das auch nicht tun
sollen? Schließlich war damals kein dummes kleines Mädchen hier im Düsterwald,
das ihm diese Reise ausreden konnte!“
Konzentriert
legte ich die Stirn in Falten und dachte darüber nach. Hm... das leuchtete mir
ein. Aber wie hätte ich denn wissen sollen –
„Du
brauchst überhaupt nichts zu wissen! Du sollst nichts wissen! Und am
besten versuchst du auch nie wieder etwas zu wissen!“ Donnernd schlug Radagast
die Faust auf den Bettpfosten und rang hernach die Hände. „Das ist doch
wirklich zum Verrücktwerden!“
„Tut mir
leid“, versicherte ich zerknirscht und blinzelte ihn aus tränenüberströmten
Augen an. „Kann ich das nicht wieder gutmachen? Er ist zu Fuß unterwegs und
wenn ich ihn auf Brasfaloth einholen könnte -“
„Nein!“
unterbrach er mich hastig. „Das ist keine gute Idee.“ Er war wieder
aufgestanden und führte seine Wanderschaft durch mein Zimmer fort. Diesmal
jedoch ohne dabei die Sonne zu verfinstern oder Löcher in meinen Boden zu
trampeln.
„Pallando
würde wahrscheinlich keinen Verdacht schöpfen, aber sollte er Saruman davon
berichten, könnte der es doch reichlich seltsam finden. Du weißt, deine
Anwesenheit in Mittelerde ist kein Geheimnis mehr. Galadriel sucht dich und es
würde mich nicht verwundern, hätten Sarumans Späher ebenfalls von dir
erfahren.“
„Oh...“,
war alles, was ich herausbrachte. Das hatte ich in der Ungezwungenheit und dem
Alltag Düsterwalds ganz vergessen.
„Außerdem,
wie stellst du dir das eigentlich vor? Pallando muß doch bereits vor über einem
Monat hier gewesen sein. Und du dummes Menschenkind willst ihn jetzt noch
einholen? Du wüßtest doch gar nicht, wo du ihn zu suchen hättest!“
Radagast
hatte kurz in seinem Fußmarsch inne gehalten und nahm ihn jetzt wieder auf. Ich
entschied, daß es vielleicht nicht die schlechteste Idee war, mich erst einmal
schweigend zu verhalten und ihn nicht in seinem Gedankengang zu stören. Er
würde sicher einen Weg aus diesem Schlamassel finden, oder? Ängstlich
beobachtete ich jede seiner Bewegungen. Es mußte einfach eine Möglichkeit
geben, meinen Fehler wieder gutzumachen. Nicht auszudenken, wenn durch meine
Schuld eine Lawine ausgelöst worden wäre, die unaufhaltsam hinunter ins Tal
rollte und nicht mehr aufzuhalten war...
Ich
schloß die Augen. Bitte! Bitte! flehte ich inbrünstig, ohne mein Anliegen
akkurat formulieren zu können. Ich wagte jedoch nicht nachzufragen was daran so
wichtig war, daß Pallando sein Ziel erreichte. Radagasts Reaktion hatte mir nur
allzu deutlich gezeigt, wie ernst die Lage war, und ich hatte ehrlich keine
Lust, einen neuen Wutausbruch herauf zu beschwören.
Die Minuten
vergingen zäh und allmählich schliefen mir die Füße ein, die in meiner
kauernden Stellung nicht ordentlich durchblutet wurden. Unmerklich begann ich
die Schritte des Istar zu zählen, die dumpf und gleichmäßig die Stille
durchdrangen, nur unterbrochen von gelegentlichen ungeduldigen Paffgeräuschen.
Nach
einer kleinen Ewigkeit blieb er abrupt stehen und verkündete seinen Entschluß:
„Ich muß
selbst nach Isengart!“
„Wie?
Aber warum...“
„Und du
wirst mich begleiten!“ entschied er grollend. „Dich kann man ja wirklich nicht
aus den Augen lassen! Nachher verhinderst du mit deinem dummen Plan noch
Gollums Flucht!“
„Bitte
nicht! Nicht jetzt!“ Entsetzt rappelte ich mich auf und warf mich dem Istar vor
die Füße. Bettelnd hob ich die Hände. „Nicht jetzt, wo ich endlich Galvorn
gefunden habe und und...“ Zu gerne hätte ich jetzt hinzugefügt >und dabei
bin sein Herz zu erobern<, aber das stimmte so nicht ganz. Statt dessen
stammelte ich etwas von meiner neuen Heimat und daß ich hier gebraucht wurde,
aber auch dieses Argument entsprach nicht der Wahrheit. Niemand brauchte
mich hier. Ich schluchzte zum Steinerweichen.
Doch
Radagast ließ sich nicht umstimmen. Ungnädig wandte er sich von mir jammerndem
Häufchen Elend ab.
„Das hast
du dir selbst zuzuschreiben!“ zankte er und schnitt mir mit einer
gebieterischen Handbewegung jedes weitere Wort ab. „Genug!“
Damit war
es entgültig. Ohne sich weiter um mich zu kümmern rauschte er zur Tür hinaus
und ließ mich allein.
Was half
es, daß ich mit meinem Schicksal haderte? Wieder einmal mußte ich meine Sachen
packen. Der einzige Unterschied zu meinen bisherigen Reisen bestand darin, daß
ich mich nun von meinem Ziel fortbewegen sollte, anstatt darauf zu. Ich ging
nicht zum Abendessen und weinte die ganze Nacht hindurch. Am nächsten Morgen
war ich wie erschlagen, als Radagast mich in aller Frühe aus dem unruhigen
Schlummer riß, in den ich erst kurz zuvor gefallen war.
Doch die
bitterste Enttäuschung erwartete mich erst noch.
Denn der
Zauberer hatte niemanden über unsere Abreise informiert und keiner erwartete
mich am Tor, von dem ich mich hätte verabschieden können. Erst da wurde mir
klar, daß ich selbst darum hätte bedacht sein müssen, aber meine Versuche
zurück in die Gewölbe zu gelangen, um wenigstens Galvorn vorher noch einmal
aufzusuchen, vereitelte Radagast mit eiserner Faust.
Die Sonne
schickte gerade ihren ersten andeutungsvollen Schimmer über die hohen Wipfel,
als wir das Waldelbenreich verließen. Keiner von uns sprach ein Wort.
Nach dem
vierten Teil einer Stunde ließ Radagast halten und beobachtete abwartend den
zurückliegenden Weg. Ich fragte nicht nach dem Grund. Es interessierte mich
einfach nicht. Müde ließ ich mich auf den Boden sinken und schlang die Arme um
die angezogenen Knie.
Noch
befanden wir uns im beschützten Teil Düsterwalds. Das erkannte ich an den
Bäumen, die – hörte man genau hin – von der Anwesenheit der Elben sprachen.
Damit meine ich nicht sprechen im eigentlichen Sinn. Es war wie... wie ein
schützender Mantel, der diesen Ort umgab. Ein Gefühl, das die Finsternis
aussperrte, die außerhalb herrschte. Die Blätter schienen grüner, das Moos am
Waldboden saftiger, die Ameisen arbeitsamer – selbst der Käfer, der sich
neugierig auf meiner Hand niederließ, war seltsam angesteckt von der Freude,
dem Schrecken der Dunkelheit entkommen zu sein.
Stumm
bestaunte ich seine schillernden Flügel und die Gelassenheit, mit der er sich
putzte. Darüber überhörte ich das sich nähernde Hufgeklapper. Vielleicht wollte
ich es aber auch nur nicht wahrnehmen. Irgendwie hatte mich jegliche
Lebensenergie verlassen und erst als Brasfaloth mich energisch in den Rücken
stupste, blickte ich auf – und wurde fast gleichzeitig von zwei wilden Orks
umgerissen, die sich wie entmenschte Furien auf mich stürzten.
„Elanor!“
quietschten sie dabei vor Freude und drückten mich hart zu Boden, so daß ich
kaum atmen, geschweige denn mich gegen die ungestümen Umarmungen wehren konnte.
So, jetzt
ist es passiert! dachte ich. Jetzt ist alles aus! Jetzt haben sich dich am
Schlafittchen!
Einer
preßte mir bereits mit beiden Armen den Hals zusammen und schmatzte mir einen
schallenden Kuß auf die Backe!
I-gitt!
Ja, genau das war es, was ich mir immer gewünscht hatte! Von einem Ork geliebt
und geheimelt zu werden!
Angewidert
drehte ich den Kopf zur Seite und riß in Todesangst die Augen auf!
Neben mir
stand einer der Nazgûl! Ich war verloren! Sein schwarzes Gewand streifte meine
Nase und kitzelte so unwiderstehlich, daß ich herzhaft niesen mußte. Die
Gestalt erhob ein gespenstisches Gelächter und –
Ich
kannte diese Stimme. Zu gleicher Zeit zeigte mir ein fröhlicher Sonnenstrahl
wie farbenblind ich doch gewesen war.
Natürlich
war es niemand anderes als Radagast, der sich so lautstark über meine hilflose
Situation amüsierte und die beiden Orks entpuppten sich als Berigond und seine
große Schwester – die beiden Elbenkinder, die zu ihrer „Tante“ Galadriel reisen
sollten. Aber wie kamen sie hierher?
„Luft!“
gurgelte ich erstickend.
Berigond
gab ruckartig meinen Hals frei und ermöglichte dadurch seiner Schwester
nachzurücken und jubelnd seinen Platz einzunehmen. Zwar versuchte ich ihrem
Griff zu entkommen, hatte aber gegen das flinke Elbenmädchen nicht den Hauch
einer Chance. Mir wurde schon schwarz vor Augen, als sich zwei kräftige
Händepaare meiner erbarmten und die beiden Kinder von mir herunterzogen.
„Danke...“,
stöhnte ich, stemmte mich in sitzende Stellung auf und begutachtete meine
Retter.
Nanu! Das
waren doch die Lórienelben! Ihr wißt schon. Die, die auf Geheiß Celeborns zum
Düsterwald gekommen waren und deren Anwesenheitsgrund ich so lange vergeblich
bespitzelt hatte! Erstaunt blinzelte ich in die Runde. Da waren auch die Eltern
der beiden Kinder. Sie trugen Reisekleider und alle waren zu Pferd. Ich machte
ein noch viel dümmlicheres Gesicht, bis endlich der Groschen fiel.
Deshalb waren
die Galadhrim nach Düsterwald gekommen! Um Galadriels Verwandtschaft zu
begleiten und gleichzeitig Kindermädchen zu spielen!
Trotz
meiner wenig vorteilhaften Lage begann ich schallend zu lachen. Es gab also
auch in anderen großen Elbenreichen Männer, die sich für eine solch
unheldenhafte Aufgabe hergeben mußten. Das Bild jenes Abends schob sich vor
mein inneres Auge, wie die vier Elben hoch erhobenen Hauptes und mit einer
Arroganz als hinge das Schicksal Mittelerdes nur allein von ihnen ab, den
Speisesaal betreten hatten – eine Vorstellung, die meine Heiterkeit noch
erhöhte. Ich preßte beide Hände auf meinen Bauch, weil ich befürchtete, mein
Zwerchfell müßte sonst zerbersten. Es bedurfte einiger Zeit, bis ich mich
wieder unter Kontrolle glaubte. Ich sah auf und in die ratlosen Gesichter der
Umstehenden und meine zusammengekniffenen Lippen platzten auseinander wie eine
Wasserbombe – so laut und ebenso feucht...
Nun,
wenigstens die Kinder fanden dies ausgesprochen spaßig und stimmten mit ihren
hellen Stimmchen in mein närrisches Gelächter ein, während Radagast die Elben
höchst unterwürfig darum ersuchte, sich mit mir der kleinen Karawane
anschließen zu dürfen. Seine ausgesucht demütige Haltung kostete mich den
letzten Rest meiner Selbstbeherrschung. Ich bekam kaum richtig mit, was er als
Grund und Ziel unserer Wanderung angab. Die Szene war einfach zu köstlich!
Niemand, der nicht einen seiner Wutausbrüche erlebt hatte, hätte in dieser Pose
in Radagast einen großen und mächtigen Zauberer vermutet.
Als wir
wenig später in Gesellschaft der Elben weiterritten, stellte ich beschämt fest,
daß ich für ungefähr fünf Minuten meinen Herzschmerz vergessen hatte. Mit einem
wehleidigen Seufzer wandte ich mich auf dem Pferderücken um, sogut dies eben
ohne Sattel möglich war, ohne auf der Seite herunterzurutschen und starrte
zurück zum Waldelbenreich, dessen Grenzen wir soeben überschritten.
„Er wird dir
schon nicht davonlaufen!“ murrte Radagast, sichtlich genervt durch meine
unbeherrschten Gefühle und vielleicht auch ein bißchen deshalb, weil er sich
gerade wegen mir zu dem Narren hatte machen müssen, für den ihn jeder hielt.
Ach,
Radagast! Du hast gut reden! Was sind schon ein paar Monate oder Jahre für
einen Unsterblichen? Außerdem bist nicht du derjenige, der seinen Liebsten
zurücklassen muß!
Traurig
zupfte ich an Brasfaloths Mähne herum, in der sich ein dürres Ästchen verfangen
hatte. Dabei zog ich zu heftig und der Schimmel schlug protestierend den Kopf
zur Seite. Niedergeschlagen beendete ich mein Tun und versank in Selbstmitleid.
Doch
bereits nach wenigen Metern quälte mich meine Neugierde noch heftiger als aller
seelische Schmerz und ich unterbrach mein schmollendes Schweigen.
„Woher
wußtest du eigentlich, daß sie jetzt hier entlangkommen?“ Obwohl wir in einigem
Abstand hinter der Gruppe herritten und ich recht leise sprach, hielt ich es
für ratsam unser Gespräch auf deutsch zu führen. Wer konnte schon wissen wie
gut die Erstgeboren tatsächlich hören konnten?
„Und
erzähl mir jetzt nicht, daß sie das in der Vergangenheit auch sind. Das paßt
nämlich nicht zusammen!“ erklärte ich oberklug. „Weil -“, hob ich Stimme
und Zeigefinger und machte ein furchtbar wichtiges Gesicht, „Mir ist
aufgefallen, daß in der Vergangenheit – also in der richtigen – mein Babysitter
gar nicht mit der Herrin des Goldenen Waldes aneinandergeraten sein kann.“ Ich
vermied es wohlweislich die Namen auszusprechen, die in der für die Elben
ansonsten fremden Sprache nur unnötig für Aufmerksamkeit gesorgt hätten.
„Ist das
so?“ dehnte Radagast und lächelte geheimnisvoll.
„Genau!
Denn in dieser Vergangenheit bin ich niemals nach Mittelerde gekommen und
deshalb konnte Galadriel auch nicht in ihrem Spiegel etwas über mich erfahren
und darum“, schloß ich sarkastisch, „konnte sie auch nicht so erpicht auf sein
Wissen sein!“
Ich
schickte ein zufriedenes, bestätigendes „Hm!“ hinterher und versuchte in einem
Reflex meine Arme vor der Brust zu verschränken, wodurch ich einen
wunderschönen Knoten in mein Halftergarn zauberte. Man sollte es nicht für
möglich halten, was eine solche Bewegung bei diesen Spinnenfäden anrichten
kann...
Radagast
unterdrückte nur halbherzig ein genervtes Stöhnen und da er nicht gleich auf
meine Feststellung reagierte, glaubte ich ihn geschlagen zu haben. Erst
ungefähr zweihundert Meter weiter beschloß er, mich mit einer Erklärung zu
erleuchten. Nein, eigentlich war es eher ein winziges Verhör. Und er klang dabei
stark nach dem geduldigen Schulmeister, der einen wirklich dummen Schüler vor
sich hat.
„Sag mir,
Fräulein Besserwisser, was genau zeigt denn der Spiegel?“
„Was war,
was ist und was vielleicht...“, begann ich spöttelnd zu zitieren und stockte an
dieser Stelle. „Ähm..., vielleicht sein wird?“ beendete ich zögernd.
Radagast
brummte zustimmend. Der Schüler hatte seine Lektion gelernt und der Lehrer
hielt es nicht für nötig, der erlangten Erkenntnis noch etwas hinzu zu fügen.
Ich
stöhnte, ließ mich aber durch den kleinen Mißerfolg nicht davon abhalten, den
nächsten vermutet-unlogischen Punkt vorzubringen.
„Pallando
hat gesagt, ihr müßtet euch alle fünfzig Jahre bei eurem Oberen einfinden.“
Noch ein
bestätigendes Brummen. Radagast war heute wieder einmal außerordentlich
gesprächig! Aber ich sollte mich nicht beklagen. Wenigstens hüllte er sich
nicht völlig in Schweigen.
„Mußtest
du dann nicht ohnehin nach Isengart? – Nein?“
„Das
Generalkapitel wurde für dieses Jahr abgesagt.“
Und?
Still erwartete ich seine nächsten Worte. Oh, ich kannte ihn noch immer nicht
gut genug! stellte ich mit einem ironischen Lächeln fest und sprach meine Frage
laut aus.
„Pallando
befand sich bereits auf dem Weg in den Westen. Er und der Bote, der ihn darüber
informieren sollte, haben sich verpaßt.“
„Ah...“
Hm...
„Habt ihr
Istari nicht eine andere Möglichkeit... ich meine... – Ach vergiß es!“ lenkte
ich schnell ab, als ich Radagasts Unmut in dem strengen Blick und der
hochgezogenen Augenbraue spürte.
Die Elben
setzten ihre Pferde in einen zügigen Trab und meine Bemühungen die Zügel zu
entknoten mußten jenen mich auf Brasfaloths Rücken zu halten weichen. Das war
nicht ganz einfach, weil dicke Wurzelstränge den Waldboden überzogen, über die
die Tiere mit kleinen Sprüngen hinwegsetzten. Glücklicherweise hatte ich
zwischenzeitlich aber doch einiges dazugelernt und hielt mich ganz wacker.
Es wurde
zunehmend dunkler unter dem dichten Laubwerk der Bäume. Bald schon mußte ich
mich völlig auf den Orientierungssinn meiner Begleiter und meines Pferdes
verlassen.
„Ich
dachte du reist nicht viel?“ meckerte ich nach einer Weile, als ich mich an das
Ruckeln und Hopsen und das Dämmerlicht gewöhnt hatte. Erst dann bemerkte ich,
daß ich diese Frage schon einmal ausgesprochen hatte.
„Tue ich
nicht!“ giftete der Zauberer mich erwartungsgemäß an.
„Schon
gut, schon gut!“ Beschwichtigend hob ich die Hände, brachte dadurch eine noch
größere Verwirrung in meinen Bandsalat und fiel beinahe vom Pferd.
„Wäre es
nicht leichter gewesen, mich drei Jahre später nach Mittelerde zu bringen...?“
klagte ich schließlich. Irgendwie kam mir das alles doch reichlich
unorganisiert und chaotisch vor.
Radagast
schüttelte den Kopf.
„Aber
wieso?“ So leicht wollte ich mich nicht abschütteln lassen. Konnte das
tatsächlich mit dem Beginn des Ergrauens meiner Haare zu tun haben, wie ich
damals naiver Weise angenommen hatte? Was steckte tatsächlich dahinter?
Radagast
blickte stur geradeaus.
„Kannst
du es mir nicht sagen? Oder willst du nicht?“ Zum Melkor noch mal! Das
war schließlich mein Leben, oder? Ganz gleich welche Unannehmlichkeiten
ich ihm bereitete! Mir ging es immerhin gerade auch nicht rosig!
Ich war
kurz davor mein schickes Mithril-Schwert zu zücken und ihn damit zu bedrohen. Meine
Hand ruckte bereits in die Richtung des Knaufs – aber nicht nur der schnelle
Ritt hinderte mich daran, mein Vorhaben auszuführen, auch der inzwischen
wirklich beachtliche Bindfaden-Knoten war dabei im Weg. Hilflos betrachtete ich
das Chaos.
„Radagast?“
fragte ich plötzlich kleinlaut, in einem aufkommenden Gefühl der Verzweiflung,
„Er wird mich doch nicht vergessen, oder?“
„Wer?
Galvorn? Natürlich nicht. Elben vergessen nie etwas!“
„AAAHH!“
Ich brüllte so laut, daß die Erstgeborenen an einen Orküberfall glauben mußten
und augenblicklich in Gefechtsformation gingen. Dafür benötigten sie kaum fünf
Sekunden. Beeindruckend!
Mit
gespannten Bögen erwarteten sie den Angriff, der natürlich ausblieb.
Radagast
nahm keine Notiz von ihren Bemühungen und hielt nicht einmal sein Pferd an. Bis
wir zu ihnen aufgeschlossen waren, hatten sie ihren Irrtum erkannt und ihre
Formation aufgelöst.
„Ich darf
es nicht.“
So?
„Es
verstößt gegen die Regeln.“
Welche
Regeln?
„Die,
denen du dich durch die Annahme meines Angebotes unterstellt hast. Die Zukunft
deiner alten Welt ist nun für dich irrelevant. Hier in Mittelerde liegt dein
neues Schicksal.“
Nachdenklich
sah ich vor mich hin und grübelte darüber nach, was der Alte gerade gesagt
hatte und wie ich mein Halfter wieder in Ordnung bringen konnte. Vorsichtig
begann ich an dem Knäuel in meinen Händen herum zu zupfen.
Spielte
er auf etwas an, das in meiner Welt mit mir geschehen wäre? In den nächsten
drei Jahren? Vielleicht am nächsten Tag?
„Radagast?“
Meine Stimme zitterte. Ich fühlte mich elend. – Also noch viel elender als
zuvor, wenn das überhaupt möglich war.
Er
schwieg.
„Radagast?
Was ist mit meiner Mutter? Ich meine... Du weißt doch was ich ihr geschrieben
habe, oder?“
Er
schwieg noch immer.
„Radagast,
bitte!“ flehte ich, doch der Zauberer sah starr an mir vorbei.
Auch
später hat er mir diese Frage niemals beantwortet. Aber von nun an bemühte ich
mich vergeblich, die Phantasien an meine irdische Zukunft zu vertreiben, die tags
in wilden Mutmaßungen und nachts durch Alpträume den Weg in meine Gedanken
fanden. Noch Jahre später schreckte ich in manchen Nächten aus einem solchen
Angsttraum auf und immer wieder sah ich dabei die dunklen Augen des Istar vor
mir und hörte seine anklagenden Worte: „Du hättest mit mir kommen sollen!“
~*~