„Du willst
das wirklich tun?“
„Wollen?
Nein...“ Radagast zerzauste seinen Bart und brummte zur Bekräftigung seines
Mißvergnügens wie ein in seinem Winterschlaf gestörter Bär.
„Dann laß
es.“ Ich zuckte die Achseln und drückte Brasfaloth meine Fersen in die Weichen,
um zu dem Zauberer aufzuschließen.
Soeben
durchritten wir die Pforte Rohans. Eigentlich weiß ich bis heute nicht, weshalb
das breite Felsental diesen Namen trägt. Mit einem Portal hat es wenig gemein.
Die Ebene ist so weitläufig, daß ich nur ganz entfernt zur Rechten den
Südzipfel des Nebelgebirges erkannte und auf der anderen Seite in weiter Ferne
die Ered Nimrais sich aus den Nebeln des feuchten Frühlingsmorgens erhoben. Der
Isen war über die Ufer getreten und rauschte zu unserer Linken entlang wie ein
Wildwasserbach, und die tiefstehende Sonne warf unsere Schatten weit über den
felsigen Boden voraus.
Ich hob
einen Arm in die Höhe und winkte meinem langgezogenen, lichtlosen Bildnis zu,
das durch die vielen Unebenheiten des Weges durchbrochen war und eher einem
unförmigen Krüppel glich.
Ich
grinste lustlos.
Seit
Radagast zurückgekehrt war, hatte er kaum drei Sätze gesprochen. Er war
sichtlich verstimmt und hatte nur durchblicken lassen, daß Saruman ihm einen
Auftrag erteilt hatte. Über Einzelheiten hatte er sich ausgeschwiegen.
Ich
verstand nicht, weshalb er sich überhaupt dazu hergab. Schön, er mußte
Pallandos Platz einnehmen, welche Rolle der Blaue auch gespielt haben mochte,
aber deshalb bewußt für den Feind arbeiten?
Jetzt
brummte ich mißmutig. Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
Radagast
betrachtete mich nachdenklich von der Seite. „Du fragst dich, weshalb ich es
dennoch tue?“
Ich
nickte schmollend und der Alte kramte seine Pfeife hervor, um mit der
entspannenden Wirkung des Krautes sein Gemüt zu beruhigen. Erst als dicke
Rauchschwaden über mich hinweg und durch das Tal zogen, setzte er sich auf dem
Pferderücken zurecht und sah mir durchdringend in die Augen. In diesem
stechenden Blick flackerte ein unheimliches Feuer, das mich deutlich erkennen
ließ, daß der Zauberer nur äußerlich ausgeglichen wirkte.
„Ich muß.
Es ist meine Aufgabe zu verhindern, daß die Vergangenheit verändert wird.“
„War
Pallando denn so wichtig für den Verlauf der Geschichte?“ fragte ich verwirrt.
„Wieso hab ich dann nie etwas Derartiges von ihm gelesen?“
„Es sind
oft die unbedeutenden Dinge, die die Geschichte in eine Richtung lenken, die
sie von alleine niemals genommen hätte. Die sofortigen Auswirkungen mögen
gering sein, vielleicht sogar falsch erscheinen, aber sie ziehen andere
Handlungen nach sich, die wiederum dafür sorgen, daß sich etwas so entwickelt
und nicht anders. Und was das „anders“ anbetrifft, so wissen wir nicht, ob es
zum gleichen Ziel führen würde. Verstehst du?“
Nicht
wirklich, aber ich nickte dennoch brav.
„Was ist
es denn Unbedeutendes, das Pallando vollbracht hat?“ Die scheinbare Ruhe des
Istar machte mich mutiger und schließlich wollte ich doch wissen, was mir
bevorstand. Seit gestern Morgen wußte ich nicht einmal, wohin wir eigentlich
ritten.
Radagast
machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ einen abwertenden Laut hören. Das
Pfeifenkraut hatte also begonnen, seine Wirkung zu entfalten. „Er hat Gandalf
dem Grauen eine Botschaft überbracht.“
Er hat...
Ruckartig
fuhr ich Brasfaloth in die Zügel, woraufhin der Hengst irritiert den Kopf
schüttelte, fragend schnaubte und endlich stehen blieb, da er meine unorthodoxe
Aktion nicht anders zu deuten wußte.
Mit offenem
Mund starrte ich dem Alten hinterher, den mein Zurückbleiben überhaupt nicht
interessierte.
„Er hat sie überbracht?“ platzte ich
sodann heraus und bemühte mich, die verlorene Strecke wieder aufzuholen. „Soll
das heißen, du hast das ursprünglich
gar nicht getan?“ Ich starrte Radagast an wie ein Gespenst.
„Ursprünglich
nicht“, bestätigte dieser mit äußerster Seelenruhe. „Warum fragst du?“
Warum ich
fragte? Nun, vielleicht deshalb, weil ich soeben hatte erkennen müssen, daß ich
unglückseliger Mensch es fertig gebracht hatte, nicht nur die Geschichte
Mittelerdes durcheinander zu bringen! Nein! Die Auswirkungen meines Eingreifens
hatten bereits ihre Wellen bis hinein in Tolkiens Erzählungen geschlagen! Es
war Radagast, der Gandalf in der Nähe von Bree traf, nicht Pallando! Ich
quietschte unglücklich, als mir bewußt wurde, was ich da tatsächlich
angerichtet hatte und es keine leeren Drohungen waren, wenn der Istar mich
immer wieder ermahnte, meine Finger nicht in Dinge zu stecken, die mich nichts
angingen.
Nun ja,
verstanden hatte ich es. Theoretisch. Daran bestand kein Zweifel. Doch von der
Einsicht bis zum Beherzigen und der tatsächlichen Umsetzung des Erkannten war
es ein weiter und beschwerlicher Weg. So kam es, daß ich mir, kaum hatte ich
den ersten Schrecken überwunden, bereits Gedanken darüber machte, wie ich
Gandalf vor seiner Gefangennahme im Orthanc bewahren konnte.
„Du weißt
schon, was du Gandalf damit antust, oder?“ Ich war bemüht, meine Worte
möglichst beiläufig klingen zu lassen, denn ich hielt mich für klüger als ich
war und wollte, daß Radagast selbst zu einer akzeptablen Lösung kam. Dies würde
mich vor einem neuen Wutausbruch bewahren, wie ich hoffte.
Doch
Radagast schürzte nur unbeeindruckt die Lippen. „Er wird es überleben, oder
etwa nicht?“
„Aber...“
Der Rest des Satzes blieb mir im Halse stecken. Er wird es überleben? Das war
alles, was er dazu zu sagen hatte? Gandalf würde über Tage eingesperrt, unter
welchen erniedrigenden Umständen und körperlichen Leiden, konnte niemand so
genau wissen. Er konnte von Glück sagen, daß Gwaihir ihn gefunden hatte und...
„Wie ist
Gandalf eigentlich entkommen? Ich meine, ursprünglich...“ War Gwaihir nicht auf
Radagasts Veranlassung hin mit einer Botschaft zum Orthanc geflogen? Mir wurde
heiß und kalt zugleich. Da mußten eine Menge Puzzleteilchen neu geordnet
werden...
Radagast
winkte ab, als hätte er sich darüber bereits ausgiebig Gedanken gemacht und
wünschte nicht, davon zu sprechen.
„Gandalf
muß vom Verrat Sarumans erfahren“, murmelte er leise vor sich hin, „Er würde
mir niemals glauben, würde ich es ihm erzählen.“ Er ruckte hoch, sandte einen
scharfen Blick über die weite Ebene und sackte erneut in sich zusammen.
„Erus
Wege sind nicht die unseren“, erklärte er gutmütig und mit einem Leuchten in den
Augen, das etwas vom Vertrauen eines Kindes widerspiegelte. „Nimm Gollums
Flucht, zum Beispiel. Kannst du dir das Entsetzen denken, das im Rat zu
Bruchtal herrschte, als sie bekannt wurde? Hielten nicht alle dies für ein
fürchterliches Unheil?“
„Und dennoch
wäre ohne ihn der Ring niemals vernichtet worden.“
Ich
seufzte und runzelte nachdenklich die Stirn.
„Gandalf
wäre rechtzeitig im tänzelnden Pony gewesen und dafür wären die Hobbits nicht
auf Streicher getroffen, nicht wahr?“
Der Zauberer
schüttelte den Kopf. „Wie ich schon sagte. Gandalf muß mit seinen eigenen Augen
sehen und seinen eigenen Ohren hören, welche Absichten Saruman verfolgt. Seine
Worte haben im Weißen Rat ein weit höheres Gewicht, als die meinen.“ Er atmete
kurz durch und schob sich lethargisch den Pfeifenstil zwischen die Zähne.
„Würde er
nicht den Auftrag erhalten, den Obersten unseres Ordens aufzusuchen, läge für
ihn kein Grund vor, Frodo den Brief zu schreiben, den der gute Gerstenmann
Butterblume versäumen wird, ihm zu schicken. Sobald er vom Aufbruch der Neun
erfahren hat, würde er wahrscheinlich selbst zurück ins Auenland reisen und der
Ringträger würde bereits Wochen früher losziehen.“
„Aber das
wäre doch großartig!“ Enthusiastisch rutschte ich auf dem Pferderücken herum.
Brasfaloth schnappte nach hinten, und verfehlte mein Knie nur um wenige
Millimeter.
Radagast
stöhnte. „Hast du denn noch immer nichts gelernt? Es wäre auch schön gewesen,
wäre Gollum nicht entkommen, oder etwa nicht?“
„Oh...“
Ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg und nahm mir zum
wiederholten Male vor, mich nie wieder auf eine Diskussion mit einem Istar
einzulassen...
„Dann
sind die Reiter also bereits aufgebrochen?“
Eine
buschige Augenbraue zog sich langsam in Richtung des ergrauten, aber noch nicht
schwindenden Haaransatzes. Radagast schwieg.
„Wo haben
sie sich eigentlich so lange aufgehalten, bevor sie endlich den Isen überquert
haben?“ gab ich nicht nach.
Dann
hätten es in jener Gewitternacht ja doch die gefürchteten Nazgûl sein können,
statt meines neugierigen Vierbeiners!
Ich
löcherte Radagast noch eine längere Weile mit Fragen, aber er wollte oder
konnte mir keine Auskunft geben. Zuckte nur immer wieder die Achseln und tat
so, als ginge mich das überhaupt nichts an. Irgendwann war ich über diese
Ignoranz so erzürnt, daß ich schmollend vorausritt, obwohl ich den Weg nicht
kannte. Radagast würde mich schon anrufen, wenn ich die falsche Richtung
einschlug. Und wenn nicht, war mir das im Augenblick herzlich egal.
Mein Vorsprung
hielt nicht lange, denn Radagast gab seit Isengart ein weit schärferes Tempo
vor. Wir ritten von Sonnenauf- bis untergang und legten nur die allernötigsten
Ruhepausen ein, wobei dem Istar einzig am Wohl der Pferde gelegen war, wie er
mich nur allzu deutlich spüren ließ. Dies steigerte meinen Unmut zunächst noch
weiter, aber der anstrengende Ritt verheizte schnell diese zusätzlichen
Kraftreserven. Bis zum Abend hatte sich mein Zorn in eine schier unerträgliche
Neugierde gewandelt. Dennoch verhinderte meine körperliche Erschöpfung weitere
Nachforschungen und damit ganz sicher neuen Ärger. Ich schlief wie ein Stein
und Radagast hatte früh am nächsten Morgen einige Mühe, mich aus meinem tiefen
Schlummer zu wecken.
Vier Tage
lang hetzte der braune Zauberer mich auf diese Weise durch ein ödes und
trostloses Gebiet. Dann wurde die Landschaft allmählich grüner und hügeliger
und der unsichtbare Weg, dem wir folgten, ging in eine Art Straße über - wenn
man den von unzähligen Fuhrwerken gezogenen, staubigen Pfad durch das
Wiesengelände so bezeichnen mochte. Zu beiden Seiten dieser Straße standen
niedrige Büsche und ungefähr hundert Meter östlich stach ein Buchenhain
auffällig aus der ansonsten baumlosen Steppe hervor. Dorthin lenkte Radagast
unsere Pferde.
Ich war
heilfroh, mich etwas ausruhen zu können und warf mich gleich auf einen
Blätterhaufen, den der Wind in einem rechten Winkel zwischen zwei Büschen
zusammengeweht hatte und der wie geschaffen für meine momentanen Bedürfnisse
war. Mir tat so ziemlich jeder Muskel am Leib weh. Ich seufzte erschlagen und
machte Radagast mit einem wohligen Räkeln klar, daß ich nicht beabsichtigte,
mich allzu bald von hier wieder zu erheben.
„Du
kannst jetzt ruhen. Wir werden vor morgen früh nicht weiterreiten“, erklärte
Radagast geschäftig, während er Brasfaloths Zügel an einem Busch verknotete, um
ihn am Fortlaufen zu hindern. Die Buchen standen nicht besonders dicht. So gab
es am Waldboden reichlich frisches Gras für die Pferde. Mein Hengst bediente
sich auch sogleich genießerisch an den grünen Halmen. Radagasts Brauner
betrachtete statt dessen interessiert seinen Herrn, als ahnte er, daß er heute
noch arbeiten mußte.
Ich
merkte auf. Bedeutete das, daß Radagast nun zum Treffpunkt reiten würde?
Natürlich!
Nur dies konnte der Grund für die überschüssige Zeit nach einem solchen
Gewaltritt sein!
Mühsam
verbarg ich meine Aufregung und drehte mich auf die Seite, als könnte mich
nichts auf dieser Welt jetzt wieder auf die Beine bringen. Dabei konnte ich
regelrecht Radagasts mißtrauische Blicke auf meinem Rücken spüren.
„Ich muß
noch einmal fort...“ Er klang unsicher. Natürlich wollte er mich bei dem, was
er vorhatte, nicht dabei haben. Und obwohl dies nur zu verständlich war – eine
Mary-Sue war nun wirklich das Letzte, was er bei diesem wichtigen Stelldichein
gebrauchen konnte! - fühlte ich mich augenblicklich mißverstanden und
zurückgesetzt.
Betrübt
drückte ich mein Gesicht in den Blätterhaufen und schluchzte kläglich,
woraufhin der Alte sich ein wenig übertrieben lautstark räusperte.
„Du wirst
mir auf gar keinen Fall folgen. Hast du verstanden?“ befahl er mit einer
Autorität, die eigentlich keinen Widerspruch duldete.
Ich fuhr
blitzschnell herum und stützte mich mit den Ellenbogen hoch.
„Aber...“
„Kein
>Aber<!“ zischte er. „Denke nicht einmal daran, hörst du?! Du hast
bereits zur Genüge für Unruhe gesorgt. Wenn ich auch nur ein einziges deiner
Haare in meiner Nähe sehe, dann...“,
polterte er und zog das letzte Wort dramatisch in die Länge.
„Dann?“
konterte ich erbost und war kurz davor, trotz meines lähmenden Muskelkaters
aufzuspringen.
„Dann
wirst du erfahren, wozu ein zorniger Istar fähig ist!“
Pikiert
schob ich die Unterlippe vor und blieb auf dem Blätterhaufen sitzen.
„Aber...“,
protestierte ich beleidigt.
Da stand
er plötzlich vor mir, der mächtige Maia, der sich hinter der unscheinbaren
Maske des alten Mannes verbarg! Radagast schien um mehrere Zentimeter zu
wachsen und die heiße Junisonne drang nicht mehr durch das lichte Blätterdach.
„Du.
wirst. mir. nicht. folgen!“ Jedes einzelne Wort traf mich wie ein Donnerschlag.
Ich nickte verunsichert und streckte mich erneut auf meinem Lager aus. Dann war
Radagast verschwunden.
Ich
atmete tief durch. Es war schwer für mich, den einfältigen braunen Wanderer mit
der Macht zu verbinden, die tief und gut verborgen in seinem Inneren ruhte.
Obwohl er mir nun mehrfach bewiesen hatte, daß er keineswegs der einfältige
Narr war, für den ihn jeder halten mußte, überwog doch gerade dieses Bild in
meinen Erinnerungen. Radagast war freundlich, manchmal ein wenig wortkarg und
verschlossen, aber in seinem Innersten ein netter alter Mann, der keiner Fliege
etwas zuleide tat. Nicht wahr?
Es
dauerte ungefähr fünf Minuten, bis ich mich selbst von Radagasts Gutmütigkeit
überzeugt hatte und meine Neugierde mich nicht mehr am Platz hielt.
„Du
bleibst hier und hältst die Stellung!“ gebot ich Brasfaloth. Der Hengst beäugte
mich nachlässig und widmete sich nach dieser kurzen Unterbrechung unbekümmert erneut
seiner leckeren Mahlzeit.
Mit einer
Gelenkigkeit, die in krassem Gegensatz zu meiner körperlichen Konstitution
stand und ihren Ursprung einzig in meinem unbändigen Forschungstrieb hatte,
schlich ich mich in geduckter Stellung bis an den Rand des Wäldchens.
Sachte
schob ich die Zweige einer Haselnußstaude auseinander. Dort drüben verlief die
Straße. Die Büsche standen an dieser Stelle so dicht wie die Wachholderhecke
eines deutschen Schrebergärtchens. So konnte ich Radagast, der sich jenseits
nahe des Weges niedergelassen haben mußte, nicht mehr erblicken. Sein Brauner
weidete aber ein wenig abseits im hohen Gras.
Oh ja!
Hoch stand das Gras hier. Niemand hatte es gemäht, um das Heu einzufahren.
Zufrieden rieb ich die Handflächen aneinander. Wenn ich mich ganz vorsichtig
hindurchschob, konnte niemand mich sehen. Schon gar nicht Radagast, vor dessen
Blicken mich außerdem die lange Buschreihe verbarg. Aber leise mußte ich sein.
Sehr leise!
Eifrig
begann ich das reizvolle Unterfangen. So schwer konnte es doch nicht sein.
Schließlich hatte ich viel von einem Waldläufer gelesen, der das Anschleichen
perfektioniert und zur Kunst erhoben hatte!
Dummerweise
ließ sich meine äußerst druckempfindliche Deckung von meinem theoretischen
Wissen überhaupt nicht beeindrucken. Das Gras wackelte und raschelte, ganz
gleich, wie vorsichtig ich mich hindurch schob. Noch war ich zu weit von
Radagast entfernt, als daß er mich bemerken konnte. Immerhin hatte ich
geschätzte hundert Meter Zeit, mich im lautlosen Vorwärtskriechen zu üben, und
ich kann nur sagen, daß ich mich wirklich redlich bemühte!
Als
erstes versuchte ich die Version „auf Finger- und Zehenspitzen“. Keine Ahnung,
wie das funktionieren soll. Ich ächzte und stöhnte und schimpfte und schnaufte,
weil mir allein bei dem Versuch die Ausgangsstellung einzunehmen, bereits die
Puste ausging. Dann blieb ich einige Minuten flach auf dem Boden liegen und
überlegte, ob ich bei der Beschreibung dieser Anschleichmethode vielleicht
etwas mißverstanden hatte, oder schlicht zu unsportlich zur Ausführung war.
Hatte Karl May nicht geschrieben, daß dazu eine Menge Übung erforderlich sei?
Daran mußte es wohl liegen!
Nun gut,
dann sollte eben das einfache „auf allen Vieren kriechen“ herhalten. Hoch genug
war das Gras schließlich. Ich atmete tief durch und erhob mich auf Hände und
Knie. Abgesehen von einigen spitzen Steinen, die ganz empfindlich in die
standgebenden Bereiche der Extremitäten schnitten, ging das soweit ganz gut.
Das Problem des raschelnden Grases war damit jedoch leider noch nicht gelöst.
Versuchshalber machte ich zwei sehr langsame „Schritte“ voraus und wartete
atemlos auf eine Reaktion Radagasts.
Ich hörte
nichts. Sah noch viel weniger. Nein, nein! Das lag jetzt ausnahmsweise nicht an
meiner Kurzsichtigkeit, sondern daran, daß ich im wahrsten Sinne des Wortes bis
über beide Ohren im Gras steckte.
Also
kroch ich weiter. Und weiter. Und weiter.
Dann
hörte ich etwas.
Aber es
war nicht Radagast. Der befand sich noch etwa zwanzig Meter voraus.
Ich hörte
Hufgetrappel. Da ritt jemand die Straße entlang. Und dieser Jemand sang! Es
klang sehr nach einem munteren Wanderlied, doch leider verstand ich den Text,
der verdächtig nach Westron klang, nicht.
„Gandalf!“
hörte ich Radagast rufen und nutzte die Gelegenheit, mich, solange er sprach,
schneller voran zu arbeiten. „Dich suche ich. Aber ich bin fremd in diesen
Gegenden. Ich wußte nur, daß du in einem wilden Gebiet mit dem merkwürdigen
Namen Auenland zu finden seist.“
>Pah!
So ein Heuchler!< dachte ich grimmig und gratulierte mir gleichzeitig zu den
gewonnenen zehn Metern.
„Deine
Vermutung war richtig“, antwortete Gandalf. Seine Stimme klang noch tiefer und
voller als die von Radagast.
Ihr
glaubt gar nicht wie glücklich ich darüber war, daß die beiden sich auf
Sindarin unterhielten! So konnte ich doch wenigstens verstehen, was gesagt
wurde.
Und
entspricht meine Übersetzung der wörtlichen Rede sonst auch eher dem uns
geläufigen Umgangston, so will ich mich doch bemühen, dieses Gespräch der beiden
Zauberer so getreu wie möglich wiederzugeben.
Leider
war ich noch immer nicht nahe genug heran, um etwas zu sehen. Knapp zehn Meter
lagen noch vor mir.
Fest biß
ich die Zähne aufeinander. Jetzt oder nie! Die beiden waren so sehr miteinander
beschäftigt, daß bestimmt niemand darauf achtete, was sich in dem hohen Gras
abseits des Weges regte, oder?
„Aber
drücke dich nicht so aus, wenn du einen der Einheimischen triffst“, mahnte
Gandalf gerade in deutlich amüsiertem Tonfall. „Du bist jetzt nahe den Grenzen
des Auenlands.“
Ich
hörte, wie er vom Pferd abstieg und diesem einen Klaps auf die Kuppe gab, um es
zum Weiden zu entlassen.
„Und was
willst du von mir?“ erkundigte er sich – wie mir schien nicht wirklich
interessiert, aber bemüht, so zu klingen – bei Radagast. „Es muß dringend sein.
Du warst nie ein Wanderer, es sei denn, von großer Not getrieben.“
Oh ja.
Von großer Not getrieben! Ich
unterdrückte ein sarkastisches Auflachen und überwand die letzten Meter bis zur
Buschreihe.
„Ich habe
einen dringenden Auftrag“, berichtete Radagast. Ich konnte ihn jetzt durch
einen lichten Spalt in der Hecke erkennen. Aber Gandalf blieb meinen Blicken
noch immer verborgen.
>So
ein Mist!< dachte ich gerade noch. Dann erkannte ich, daß ich ein andere,
weit größere Sorge hatte.
Radagast
hatte mich entdeckt! Er sah sich mit einem Blick, der irgendwo zwischen
Entsetzen und Mordgedanken lag um. In diesem Moment fühlte ich mein Herz in die
Hosen sinken und endlich, endlich
wurde mir bewußt, was ich da eigentlich riskierte! Ich zog den Kopf ein und
bemühte mich nicht einmal mehr, einen Blick auf Gandalf zu erhaschen. Inständig
betete ich, daß er mich nicht auch noch entdecken würde!
„Die Neun
sind unterwegs“, erklärte Radagast nach einer Pause, die mir wie eine Ewigkeit
vorkam. „Heimlich haben sie den Fluß überschritten und ziehen nach Westen. Sie
haben sich als Schwarze Reiter verkleidet. Der Feind muß in großer Not sein
oder eine große Absicht haben. Doch was ihn veranlaßt, sich um diese entlegenen
und verlassenen Gegenden zu kümmern, kann ich nicht erraten“, stellte der Alte
sich unwissend.
„Was
meinst du damit?“ Gandalf versuchte den tiefen Schrecken zu verbergen, was ihm
gar nicht schlecht gelang. Dieser Mann mußte wahrlich Nerven aus Drahtseilen
besitzen!
„Man hat
mir gesagt, daß die Reiter, wo immer sie hinkommen, sich nach einem Land,
genannt Auenland, erkundigen.“ Radagast sagte brav sein Sprüchlein auf. Das
ärgerte mich so sehr – besonders, weil er seiner Stimme dabei den Klang eines
Einfältigen gab, obwohl er doch ganz genau wußte, worum es dabei ging! – daß es
mir schwer wurde, nicht aus meinem Versteck zu springen.
Ich schob
mir den ledernen Gurt meines Schwertgehänges... oh Mann! Wieso hatte ich mich
eigentlich mit diesem Ding belastet! Hätte ich nicht wissen sollen, daß man
unhandliche Waffen zum Anschleichen ablegt?! Egal... also ich schob mir den
Gurt zwischen die Zähne und biß fest darauf, bis mir meine Kieferknochen den
Dienst versagten.
„Das Auenland“, korrigierte Gandalf
gerade und wieder hatte ich die Gelegenheit, seine Nervenstärke zu bewundern.
Diese Nachricht mußte ihn doch geradezu mit niederschmetternder Wucht treffen!
Der Feind hatte seine fürchterlichsten Diener ausgesandt. Solche, die die
Gegenwart des Einen spüren konnten, wie Gandalf sehr genau wußte. Was anderes
konnte dies bedeuten, als daß Sauron von der Wiederauffindung erfahren und
Kenntnis darüber erlangt hatte, wo sein wertvollstes Kleinod zu suchen war!
Dieses
befand sich, im Augenblick unerreichbar für den grauen Zauberer, in den Händen
eines kleinen, so gut wie wehrlosen und unwissenden Halblings!
Gandalf
klang ruhig und konzentriert, als er sich erkundigte: „Wer hat dir das gesagt
und wer hat dich ausgesandt?“
„Saruman
der Weiße“, antwortete Radagast und mit einer nicht geringen Genugtuung stellte
ich fest, daß ihm die Worte nicht leicht über die Lippen kamen. „Und er trug
mir auf, dir zu sagen, daß er helfen will“, er stockte kurz, was aber nur mir
auffallen konnte, „wenn du dessen bedarfst; aber du mußt seine Hilfe sofort erbitten,
sonst ist es zu spät.“
Ich hörte
Schritte auf dem staubigen Boden, wie wenn jemand nachdenklich hin- und
hergeht. Dann ein abrupter Stop.
„Ich
werde zu Saruman gehen“, sagte Gandalf.
„Dann
mußt du gleich gehen“, drängte Radagast. „Denn ich habe viel Zeit gebraucht,
dich zu finden -“
Hä? Wie
bitte? War ich versucht zu rufen. Wir sind gehetzt, als wären die Nazgûl hinter
uns und nicht hinter Frodo her!
„- und
die Tage werden knapp“, fuhr Radagast unbeeindruckt von meinen rebellierenden
Gedanken fort. „Mir wurde gesagt, ich sollte dich vor dem Mittsommer finden,
und das ist jetzt. Selbst wenn du dich auf der Stelle aufmachst, wirst du ihn
kaum erreichen, ehe die Neun das Land entdecken, das sie suchen. Ich selbst
werde gleich zurückkehren.“
Kaum hatte
er dies gesagt, erhob er sich. Er rauschte dicht an mir vorüber, stieg auf sein
Pferd und machte Anstalten, sofort loszureiten.
„Warte
einen Augenblick“, bat Gandalf noch. Ich sah nur den grauen, weiten Ärmel
seines Umhanges und eine alte, sehr weiße Hand, die nach den Zügeln griff. „Wir
werden deine Hilfe brauchen und die Hilfe aller Geschöpfe, die sie gewähren
wollen. Schicke Botschaften an alle Tiere und Vögel, die deine Freunde sind.
Sage ihnen, sie sollen Nachricht geben über alles, was in dieser Angelegenheit
für Saruman und Gandalf wichtig ist. Laß Botschaften nach Orthanc schicken.“
„Das will
ich tun“, versprach Radagast. Die Angst und der Schmerz in seiner Stimme waren
kaum zu überhören. Heftiger als ich es von ihm gewohnt war, schlug er seinem
Braunen die Fersen in die Weichen und galoppierte davon. Es war offensichtlich,
wie schwer es ihm gefallen war, seinen Mitbruder zu verraten und daß er nicht
riskieren durfte, ihm die Wahrheit einzugestehen. Zum ersten Mal, seit ich
Radagast kannte, wurde mir bewußt, welche Qualen dieser Mann tatsächlich um
meinetwillen ertrug!
Ich bekam
nur noch undeutlich mit, wie auch Gandalf davonritt. Dann setzte ich mich mit
dem Rücken zur Hecke, umschlang die angezogenen Knie mit beiden Armen, verbarg mein
Gesicht hinein und weinte bitterlich.
__________
Anmerkung: Den gesamten Dialog zwischen Radagast und
Gandalf hab ich wörtlich bei der Carroux-Übersetzung geklaut.
Inspiriert für die Szene haben mich übrigens
Tolkiens Überlegungen zu den unterschiedlichen Möglichkeiten, auf welche Weise
Gandalf von den Neun erfahren sollte (siehe „The Treason of Isengard“, Seite
70ff) und dieser Satz aus „Die Gefährten“, aus dem Bericht Gandalfs über sein
Treffen mit Radagast, Seite 312:
„Dann schaute er sich um, als ob die Hecken Ohren
hätten.“
~*~