Eine
Stunde und ein mächtiges Donnerwetter – das ich schuldbewußt schweigend über
mich ergehen ließ – später, befanden wir uns auf dem Weg nach Bruchtal, wo
Radagast mich im tiefsten und dunkelsten Verlies einzusperren gedachte. Eine Zeitlang
hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, mich nach Mithlond zu verschleppen
und in den Westen zu verschiffen. Die Vorstellung, daß ich als Unbefugte bei
der Überfahrt nach Valinor in die Irre und ins Verderben fahren würde, übte
dabei einen beängstigenden Reiz auf meinen zornigen Begleiter aus.
Letztenendes
war es vielleicht einzig Aiwendils schlichtenden Bemühungen zu verdanken, daß
Radagast die Grauen Anfurten als Option strich. Erbost, und scheinbar nicht
willens irgendeine nachgiebige Regung in seinem Entschluß erkennen zu lassen,
teilte er mir schließlich mit, daß es in Mithlond keine Kerker gäbe und er auf
gar keinen Fall eines der weißen Schiffe Círdans auf dem Gewissen haben wolle!
Ganz wohl
war ihm bei dem Gedanken an Bruchtal dennoch nicht. Er wußte ebenso gut wie
ich, daß Frodo und seine Freunde bald dort eintreffen würden. Wobei
>bald< wohl eher relativ war. Ich bildete mir ein, daß er irgendwann im
Herbst von Zuhause aufbrechen würde. Früher als in drei Monaten hatten wir ihn
kaum zu erwarten.
Es lag
wahrscheinlich an der eben überstandenen Strafpredigt, daß ich nicht vor
Enthusiasmus über ein mögliches Zusammentreffen mit dem berühmten Hobbit
überströmte. Vielmehr überlegte ich, welche anderen Alternativen Radagast
blieben, um mich in >sicheren Gewahrsam< zu bringen. Denn daß er jetzt
entgültig am Ende seiner Geduld angelangt war, brauchte mir wirklich niemand zu
erzählen.
Ich hatte
Radagast noch nie so aufgewühlt erlebt. Schmerzerfüllt schloß ich die Augen und
erinnerte mich an das kaum merkliche Zittern in seiner Stimme, als er seinem
Mitbruder so bitter hatte mitspielen müssen, die Aggressivität, mit der er vom
Treffpunkt fortgeritten war und an den gequälten Gesichtsausdruck bei seiner
Rückkehr.
Jetzt
schwieg Radagast, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, um sich seine Pfeife zu
stopfen.
Ich
räusperte mich vorsichtig.
„Sagtest
du nicht zu Gandalf, du würdest nach Isengart zurückreiten?“ Diese Frage
beschäftigte mich bereits seit unserem Aufbruch.
Es
dauerte eine geraume Weile, bis Radagast antwortete; so intensiv konzentrierte
er sich auf sein Tun.
„Sagte
ich das?“ Erstaunt schaute er sodann auf und wedelte mit der flachen Hand den
dicken Qualm seiner frisch entfachten Pfeife aus seinem Gesichtsfeld. „Oh...“
Seine
leicht dümmliche Miene löste ein wenig den harten Kloß in meinem Magen. Ich
lächelte schwach. Verkürzte sich die Einwirkzeit dieses Rauschmittels
eigentlich mit dem Grad der Gemütserregung? Vielleicht hatte Radagast sich aber
auch einfach so verausgabt, daß sein Bedürfnis nach Streit befriedigt war – gewundert hätte es mich nicht.
„Ja“,
bestätigte ich mit nicht geringer Genugtuung und alle Reue über meine
neuerlichen Schandtaten geriet in Vergessenheit.
„Außerdem...“
– Ich wartete einen Moment, bis Radagast die Pfeife geschickt mit der Zunge von
einem in den anderen Mundwinkel geschoben hatte, damit sie ihm nicht im Blick
war, und er mich auffordernd ansah - „...steht in dem Buch nichts davon, daß du
zu dieser Zeit in Bruchtal warst. Das könnte zu Verwirrungen führen, denkst du
nicht?“ Oh ja, ich konnte ungeheuer kooperativ sein, wenn ich erst einmal das
Problem erkannt und verinnerlicht hatte!
Es kam
nicht oft vor, daß Radagast mir zustimmte. Auf Anhieb konnte ich mich nicht an
einen einzigen solchen Fall erinnern. Umso erstaunter war ich, als er bejahend
und nachdenklich zugleich vor sich hingrummelte und drei extra große
Rauchkringel in die Luft blies, die die Form einer Acht einnahmen und somit dem
Tengwa für das Fragezeichen prägnant ähnlich sahen.
„Fangorn?“
„Hm... zu
gefährlich. Der alte Wald könnte frühzeitig in Alarmbereitschaft geraten.“ Er
beäugte mich kritisch von der Seite.
„Okay...
ich meine, gut. Wie wär’s mit Lórien?“
„Lórien?
Das ist nicht dein Ernst!“ Einen berauschten Radagast aus der Fassung zu
bringen, dazu gehörte schon einiges!
„Doch!
Warte!“ Beschwichtigend hob ich die Hände und verlor einmal mehr die Kontrolle
über meine Bindfäden. Ich seufzte. Das würde ich auch noch irgendwann lernen...
„Gerade
die Höhle des Löwen ist oft der sicherste Platz. – Was jetzt nicht heißen muß,
daß du mich nach Mordor bringen sollst“, fügte ich schnell hinzu.
Radagast
runzelte angestrengt die Stirn.
„Ich
meine... niemand würde vermuten, daß ich mich freiwillig in Galadriels Nähe
begeben würde, wenn ich wirklich diejenige bin, die sie sucht, oder? Und
niemand käme auf den Gedanken, daß ich mich ausgerechnet in deiner Obhut befinde... – ähm...“,
piepste ich noch erschrocken, als mir bewußt wurde, daß ich da nicht gerade
eine diplomatische Erklärung gewählt hatte.
„Du
willst unbedingt zu ihr, nicht wahr?
fragte Radagast voller Ironie.
Ich
stutzte. Dann ergriff ich ohne hinzublicken in einem plötzlichen Anfall von
Perfektion die verlorengegangenen Zügel und brachte Brasfaloth aus dem
gemächlichen Galopp übergangslos in den Stand – Der Hengst rutschte mit einer
Eleganz die Hinterhand über die staubige Ebene, daß jeder Westernreiter in
Begeisterungsrufe ausgebrochen wäre.
„WAS ICH
WILL?“ brüllte ich verzweifelt. „Du willst wissen, was ich will?“ Ein tiefer Atemzug sollte mir zur inneren Ruhe verhelfen.
Herausfordernd blickte ich den Istar an.
Radagast
zog gemächlich an seiner Pfeife und blickte über die Ebene.
Das
machte mich noch rasender.
„Was ich will?“ kreischte ich mit zunehmender
Lautstärke, als ob dies den alten Mann tatsächlich beeindrucken könnte.
Als er
sich stur weigerte, nachzufragen, packte ich schließlich unaufgefordert aus:
„Ich will
ins Waldelbenreich! Ich will zu Galvorn!“ schluchzte ich nur noch mit halber
Kraft.
„Na, na.
Nun beruhige dich wieder.“ Radagast schmatzte mehrmals kurz hintereinander an
seiner Pfeife, was ungefähr wie ein tadelndes Schnalzen mit der Zunge klang.
„Es ist nur so, daß deine Worte keinen Sinn ergeben. Galadriel weiß nicht genug
von dir um beurteilen zu können, ob du dir dessen bewußt bist, was du tun oder
lassen solltest. Oder ob du erfahren hast, für wen dein Wissen von Nutzen sein
könnte. Oder was du überhaupt weißt.“
Erst
jetzt wandte er seinen Blick aus der Ferne zurück, kniff die Augen zusammen und
tippte mit dem Pfeifenstil nachdenklich gegen seine Lippen. „Ich kann nicht
einschätzen, was sie von dir denken würde, wenn wir zum Goldenen Wald kämen.
Genau genommen weiß ich nicht einmal, ob sie uns überhaupt hinein lassen
würden.“
„Nein.
Lothlórien ist keine gute Wahl“, entschied er schließlich knapp.
„Das
Auenland?“
„Oh,
natürlich! Dort würden wir hochgewachsenen Wesen auch gar kein Aussehen
erregen!“
„War auch
nur so ’n Gedanke.“ Schmollend stopfte ich nun ebenfalls meine Pfeife und
stellte dabei fest, daß mein Tabak trotz strenger Rationalisierung zur Neige
ging. Das war ein Grund, Bruchtal erneut als Reiseziel ins Spiel zu bringen.
Die unterirdischen Kerker erschienen plötzlich nur noch halb so düster.
„Und wenn
du mich nun alleine nach Bruchtal schickst?“
Radagast
sah stur an mir vorbei.
Natürlich.
Die
Antwort lag in der Frage.
Ich
seufzte.
„Wir
werden dort drüben rasten.“ Radagast deutete auf eine niedrige Buschgruppe. „Es
wird Abend und im Schutz dieser Sträucher können wir noch ein warmes Essen
bereiten, bevor die Dunkelheit hereinbricht. Morgen sehen wir weiter.“
Am Morgen
war der klare Sommerhimmel einem trüben, grauen Nebelschleier gewichen. Die
Ungewißheit über das Ziel unserer Reise war geblieben. Man könnte auch sagen,
besagter Schleier schloß uns samt unserer Umgebung ein.
Wir
frühstückten schweigend. Nur einmal unterbrach Radagasts Schimpfen die Stille,
als er sich die Finger an der heißen Teekanne verbrannte, die ich zuvor mit dem
Henkel voraus über die Flammen gehängt hatte.
Als er
sich erneut die Pfeife stopfte, schielte ich sehnsüchtig hinüber zu seinem
Tabaksbeutel, der einfach nicht abnehmen wollte, während der meine höchstens
noch für den zweimaligen Gebrauch ausreichte. Grummelnd schnappte ich mir zum
Ausgleich den letzten Haferfladen von der Feuerstelle und kaute betont
genüßlich darauf herum. Bald schon würde ich wieder bessere Kost erhalten.
Hoffte ich. Wie Rastagast jetzt wohl über Bruchtal dachte?
Er selbst
durfte nicht dorthin, da war so klar wie... naja, klar eben. Meine Aufgabe
bestand nun darin, ihn zu überzeugen, daß ich auch ohne seine Aufsicht verschwiegen
und verantwortungsbewußt handeln konnte... Nach allem, was ich den letzten
Monaten angestellt hatte, war dies eine wirkliche Herausforderung!
Ich schob
gerade den letzten Bissen des Fladens zwischen die Zähne, als mir der
befreiende Einfall kam.
„Lin-or!“
nuschelte ich mit vollem Mund.
„Wie?“
„Na,
Lin-“ – ich schluckte geräuschvoll – „Lindor.“ Vor lauter Begeisterung über
diesen genialen Einfall nickte ich heftig, ohne zu bedenken, daß ich völlig
zusammenhanglos einen Namen herausposaunt hatte.
„Ah... Lin-dor!“ dehnte Radagast und stimmte in
mein Nicken ein.
Ich
strahlte ihn an.
„Was
ist’s mit ihm?“
Mein
breites Grinsen verflüchtigte sich und ich suchte umständlich nach einer
Erklärung meines Gedankenganges. Ich weiß auch nicht warum, doch meist enden
meine Versuche, eine Angelegenheit besonders deutlich klarzustellen darin, daß
sie die Sache nur unnötig verkomplizieren.
„Es ist
doch so: Du darfst nicht nach Bruchtal, um die Zukunft nicht zu beeinflussen.
Denn wenn du dorthin reiten würdest, obwohl du eigentlich nicht dahin gehörst
und Gandalf später nachkäme und davon erführe, würde er sicherlich Fragen
stellen“, belehrte ich den Istar, als wäre er ein kleines Kind. „Man kann ja
nie wissen, was sich aus einer solchen Nachforschung ergeben könnte!“
Radagast
hob eine Augenbraue an und schwieg; wie das so seine Art war.
„Und
wärst du zu dieser Zeit nach Bruchtal geritten, dann dürftest du jetzt dennoch
nicht dorthin, denn dann wäre dein anderes Ich nun da.“ Ich kräuselte die Nase
und dachte einen Moment über meine eigenen verwirrenden Worte nach.
„Du
willst mich aber nicht alleine nach Bruchtal lassen, weil du befürchtest, ich
könnte wieder etwas Dummes anstellen, nicht wahr?“
Eine
überflüssige Nachfrage, aber was soll’s. Irgendwie muß ich schließlich die
Kurve kriegen! versuchte ich das Dazwischenreden meiner kleinen, fiesen inneren
Stimme im Keim zu ersticken.
>Warum
sagst du nicht einfach, was du willst?< meldete sie sich umso zynischer zu
Wort. >Denkst du nicht, Radagast weiß dies alles, auch ohne daß du dir die
Zunge verbiegst?<
Ich zog
eine Grimasse, war kurz davor benanntes Organ dem Zauberer herauszustrecken,
weil der nun einmal in meiner Blickrichtung saß, ignorierte die Tatsache, daß
jetzt auch Radagasts zweite Braue sich einen Weg in Richtung Haaransatz suchte
und kramte unzufrieden grunzend meine Pfeife aus dem Gepäckbündel.
„Naja,
also, ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Aber es wäre problematisch. Oder könnte es
zumindest werden... irgendwie...“, druckste ich herum.
>Ja,
ja, irgendwie!< wurde ich von diesem bösartigen zweiten Bewußtsein
ausgelacht.
„Ach,
halt endlich die Klappe!“ platzte ich wütend heraus und ruckte erstaunt hoch,
als Radagast leise und sehr amüsiert zu kichern begann.
Mein darauf
folgendes, hilfloses und äußerst beschämtes Gestotter verstärkte seine
Heiterheit. Dabei hatte ich eigentlich nur sagen wollen, daß Lindor, der
schließlich über mich Bescheid wußte, in Bruchtal auf mich achten könnte. Aber
irgendwie hatte ich völlig falsch begonnen und nun vollkommen den Faden
verloren. Als ich mich endgültig in einem Knäuel halbvollendeter
Entschuldigungen und noch unvollständigerer Erklärungen verheddert hatte,
zwinkerte der Alte mir wissend zu.
„Ich habe
eine weit bessere Idee.“ Radagast schmunzelte bedeutungsvoll und... schwieg.
„Och nee!
Komm schon! Das ist jetzt nicht mehr witzig!“ Ich hatte gerade einen tiefen,
beruhigenden Zug aus meiner Pfeife genommen und war der Einfachheit halber
zurück in meine Muttersprache gefallen. „Du solltest dir mal was anderes
ausdenken. Ehrlich! Es wird langsam langweilig, wie du allen meinen
Nachforschungen durch Schweigen aus dem Weg gehst. Wir kennen uns nun schon so
lange, daß das inzwischen alle Leser erwarten. Glaub mir, damit kannst du jetzt
echt keinen mehr beeindrucken!“ protestierte ich energisch.
„Welche
Leser?“ Radast blickte mich beinahe erschrocken an. Ich gluckste fröhlich und
rieb mir innerlich die Handflächen aneinander. Es tat gut, den Alten hin und
wieder zu foppen. Besonders dann, wenn man selbst gerade eine solch schmähliche
Niederlage erlitten hatte.
„Na die,
die meine Geschichte lesen werden, die ich für Bilbo aufschreibe!“ Ich klopfte
bezeichnend auf mein Reisebündel, in dem sich meine nicht gerade umfangreichen
Notizen befanden.
„Ach die...“, erkannte Radagast in
selbstsicherem Tonfall, „na, das können ja nicht viele sein.“
Ich
betrachtete ihn scheel von der Seite und blies ein paar Rauchkringel in die
Luft, die zu meinem Leidwesen nicht halb so lustig tanzten wie Radagasts. Die
führten nämlich gerade einen Ringelreigen über seinem Kopf aus und untermalten
seine Heiterkeit. Es bestand kein Zweifel: Es bereitete ihm eine ganz gemeine
Freude, mich zappeln zu lassen.
„Das
werd’ ich alles aufschreiben!“ drohte ich jetzt – nicht etwa zornig, sondern
mit angemessen berauschter Coolness. „Und dann werde ich Gandalf meinen Bericht
überreichen“, fügte ich nach einer kleinen künstlerischen Pause hinzu und schob
mir in aller Gemütsruhe den Pfeifenstil zu einem besonders tiefen, inhalierenden
Zug zwischen die Lippen.
Eine
lange Weile herrschte Stille zwischen uns. Ich widmete mich meinem Hobbitkraut
und Radagast blickte sinnend zu Boden. Ich hatte eine wunde Stelle erwischt.
Eine Stelle, die trotz seines momentanen Zustandes äußerst schmerzempfindlich
war. Mein nicht minder besäuseltes Bewußtsein jedoch, spürte in diesem Moment
überhaupt keine Skrupel. Ich wollte – nein, ich mußte erfahren, was Radagast plante. Und ich mußte endlich einen Weg finden, sein permanentes Schweigen zu brechen.
Mochten sich später meine Leser darüber ärgern oder nicht – mich störte es jetzt. Und zwar ganz gewaltig!
Ich geb
ja zu, Erpressung war nicht gerade eine elegante Möglichkeit. Aber auch das
konnte mich nicht mehr abschrecken. Radagast verlangte von mir, daß ich sein
Handeln und die Wahl seiner Entscheidungen akzeptierte. Gut. Dann mußte er aber
auch einsehen, daß ich die Hauptperson seiner Inzenierung war und kein toter
Gegenstand, den er nach Belieben herumschubsen konnte!
„Wenn du
nicht endlich damit aufhörst, mich aus deinen Gedankengängen auszuschließen,
darfst du auch nicht meckern, wenn ich dir in die Quere komme!“ setzte ich ganz
gemütlich noch einen obendrauf.
„Also
gut!“ grollte Radagast und ich war mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob
ich gerade einen Triumpf errungen oder eine Schlappe erlitten hatte. „Du sollst
deinen Willen haben.“
Gespannt
blickte ich ihn an. Doch der Zauberer schien es mit seiner Eröffnung überhaupt nicht
eilig zu haben. Genüßlich paffte er sein Pfeifchen zuende, klopfte es aus und
steckte es in sein Gepäck. Dann erhob er sich und räumte unser Geschirr
zusammen. Ich blieb stur auf meinem Platz sitzen, verschränkte die Arme vor der
Brust, preßte die Lippen aufeinander und sagte kein Wort.
„Wir
reiten in die Gegend südlich der Ettenöden. Zum linken Ufer der Grauflut, um
genau zu sein.“
„Was gibt
es dort?“ Verwundert unterbrach ich nun doch mein Schweigen und sah ihn
erwartungsvoll an. „Das ist nördlich von Bruchtal, richtig?“
Radagast
nickte. „Buschland. Verkrüppelte Bäume. Sträucher. Dornen.“ Er schüttete den
restlichen Tee über das Feuer. Zischend und mit einer recht beachtlichen
Rauchentwicklung erstarb es.
„Und?“
Wollte er mich jetzt in die Wildnis führen?
„Wildnis.
Moore. Undurchdringliches Unterholz.“ Radagast schwang sich mit einem
akrobatischen Sprung auf sein Pferd, der einem Jüngling zur Ehre gereicht
hätte. „Scheinbar.“
„Scheinbar?“
Umständlich krabbelte ich auf einen wackeligen Felsbrocken und zog mich auf
Brasfaloths Rücken.
„In
diesen Wäldern leben Menschen, denen ich dich anvertrauen kann.“
„Oh?“
Selbst einem gesprächigen Radagast mußte man die Wörter aus der Nase ziehen!
„Dort hat
einer der Dúnedain mit seinem Hausstand einen Teil der Wildnis gerodet und sein
Heim errichtet. Es ist wahrscheinlich die verborgenste und sicherste
Niederlassung der Menschen des Westens“, betonte er und mir fiel ein gewisser
Stolz in seinem Gebahren auf, den ich nicht recht einzuordnen wußte.
Ein
Waldläuferlager also? Gab es da Tabak?
„Sie
beziehen ihn wie fast alle Westmenschen über ihre Handelsbeziehungen nach
Bree“, erklärte Radagast, als wäre es das normalste von der Welt, auf einen
unausgesprochenen Gedanken zu antworten.
„Ah“,
machte ich nur und betastete meinen fast leeren Tabakbeutel. Die berauschende
Wirkung des Krautes war noch nicht verflogen und so reichte diese einfache
Erklärung aus, mich mit dem neuen Ziel unserer Reise zufrieden zu stellen. Erst
als wir bereits eine geraume Weile unterwegs waren, kamen mir Zweifel.
Radagast
wollte mich in ein Versteck mitten im Urwald bringen, richtig? Und er hatte in
der Vergangenheit eine überaus beunruhigende Vorliebe für windschiefe
Bretterbuden und zum Abbruch reife Bauwerke an den Tag gelegt, nicht wahr? Der
einzige Ort, wohin man ihm bedenkenlos folgen konnte, waren bisher die
Elbensiedlungen gewesen – und selbst dort hatte er sein untrügliches Gespür für
Vergängliches bewiesen. Angewidert erinnerte ich mich an den uralten Käse, den
er bei unserem Aufbruch als Proviant eingesteckt und der bereits am nächsten
Tag außerordentlich penetrant zu stinken begonnen hatte.
Und nun
schwärmte er mir von einer Menschensiedlung in einem scheinbar
undurchdringlichen Wald, mit Mooren und Sümpfen und wer weiß was noch für
unangenehmen Umständen vor? Vielleicht war sie nur deshalb so außerordentlich
sicher, weil sich nicht einmal ein Ork dorthin verlaufen würde! Geschweige denn
irgendwelche wilden Tiere. Dafür gab es wahrscheinlich jede Menge Stechmücken.
Über den Zustand der hygienischen Anlagen nachzudenken, ließ meinen Magen
revoltieren. Die Kerker Bruchtals wurden bei näherer Betrachtung verlockender
denn je.
„Vertrau
mir“, schmunzelte Radagast, ohne mich anzusehen.
„Tu ich. Ich
trau dir alles zu“, antwortete ich ebenso zweideutig wie mürrisch. Wieso hatte
ich mich eigentlich dazu überreden lassen? Und konnte ich nicht irgend etwas
dagegen unternehmen?
„Die
Dúnedain entstammen einem alten und ehrwürdigen Adelsgeschlecht. Zur Blütezeit
Arnors waren ihre prunkvollen Paläste und prächtigen Höfe weit im Land
bekannt.“
„Och
so... naja. Das ist ja auch erst ein paar Jahrhundertchen her!“
„Denkst
du wirklich, sie hätten sich nicht auch in der Verbannung einen gewissen
Lebensstandard bewahrt?“ fuhr Radagast unbeirrt fort. „Natürlich... mit den
Raffinessen Bruchtals können sie nicht aufwarten.“
Natürlich...
„Oder den
gepflegten Hallen Düsterwalds.“
Ich
stöhnte.
„Aber du
wirst es zufriedenstellend finden, wenn du dich erst daran gewöhnt hast.“
Oh,
sicher. Ich hatte mich hier schon an so vieles gewöhnen müssen. Wochenlange
Ritte ohne Sattel und vernünftiges Zaumzeug, zum Beispiel. Und ohne
Toilettenpapier, oder etwas Vergleichbarem, versteht sich. An Gewitternächte in
einsturzgefährdeten Notzelten und Gewaltritte durch nachtschwarze Wälder. - Um
nur einige der Dinge zu nennen und dabei nicht wieder auf Radagasts Bruchbude
herumzuhacken.
Hilfesuchend
hob ich die Augen zum wolkenverhangenen Himmel. Doch bereits der erste Blick
verriet mir, daß ich von dort keine Unterstützung zu erwarten hatte. Im
Gegenteil. Da oben braute sich ganz schön was zusammen. Na klasse! Ich hatte
die Ritte bei Sturzregen in meiner Aufzählung vergessen! Schimpfend zog ich
meinen Mantel hervor, der eigentlich viel zu warm für diese sommerlichen
Temperaturen war, hängte mir den Kragen über den Kopf, hielt ihn vorne mit
einer Hand zusammen, ohne in die Ärmel zu schlüpfen und ergab mich laut und
sehr ungehalten grummelnd in mein Schicksal.
~*~