Zwei
Wochen waren vergangen, seit ich den ersten, zaghaften Versuch unternommen
hatte, Radagast von seinem dubiosen Einfall abzubringen. Es war hoffnungslos. Der
alte Mann war so begeistert von der Idee, mich in ein sumpfiges,
dornenbekränztes Gebiet, fernab von jeder elbischen Zivilisation zu bringen,
daß all meine Bemühungen vergeblich waren.
Sogar
meine Bestrebungen, Brasfaloth zum Durchgehen zu bringen, als ich uns in der
Nähe Bruchtals glaubte und ihn so zu veranlassen, in den heimatlichen Stall zu
fliehen, blieben fruchtlos. Der stolze weiße Hengst schüttelte mehrfach
widerstrebend den Kopf, als wüßte er ganz genau, was ich von ihm wollte – und
daß dies nicht Radagasts Willen entsprach – und blieb stur.
So
näherten wir uns schließlich dem Ziel unserer langen Reise.
Die
meiste Zeit derselben waren wir durch recht ungastliche Gebiete geritten. Die
mit Abstand widerlichste Gegend davon, waren die Mückenwassermoore. In der
heißen Julisonne stanken die abgestandenen Tümpel nach Tod und Verwesung.
Unsere Pferde waren stellenweise bis zu den Bäuchen in dem feinen Morast
eingesunken und der von den Mooren immerwährend aufsteigende faulig riechende
Nebel erschwerte das Atmen und nahm die Orientierung. Die Sonne schien wie ein
Irrlicht durch den dichten Schleier. Unwirklich und geisterhaft.
Bereits
nach wenigen Metern hatte ich die Antwort auf die bedeutsame Frage, was diese
Mücken aßen, wenn sie keine Hobbits bekamen, gefunden: Lästige kleine
Mary-Sues! Höre ich da einen Leser genervt aufseufzen? Ja, natürlich. Ich weiß.
Der Gedanke ist naheliegend und wirklich kein Fanfiktion-Autor könnte sich der
Genialität eines solchen Einfalls brüsten. Ich jedoch war naiv genug gewesen zu
glauben, diese ekligen Biester wohlbehalten und relativ unbeschadet zu
überstehen.
Pah! Von
wegen! Meine Kleidung war feucht von Gewitterregen und Schweiß und diese hungrigen,
kleinen Blutsauger stürzten sich mit Begeistung auf mich, stachen, bissen und
trieben mich an den Rand der Hysterie. Meine Augen schwollen unter ihren
Stichen an, ebenso meine Ohren und meine Hände und... es war fürchterlich. Und
es juckte und brannte noch viel grauenhafter. Gerade als ich glaubte, ich würde
das Ende des Sumpfgebietes nicht lebend erreichen, zügelte Radagast seinen
Braunen und begann mit einem geschäftigen Brummen die großen Taschen seines
Mantels zu durchsuchen. ‚Istar’ mochten diese Viecher übrigens überhaupt
nicht...
Endlich
hatte er ein schlankes Fläschchen zu Tage gefördert und es triumphierend in die
Höhe gehalten. >Zur Abwehr der Mücken<, verkündete er stolz und ich wußte
nicht, ob ich ihm vor Freude um den Hals fallen oder ihm selbigen würgen
sollte, weil er erst jetzt an dieses Wundermittel gedacht hatte.
Der
Zauberer hielt es aus Gründen, die er mir nicht näher erläuterte für ratsam,
nördlich um die Wetterberge herum zu reiten. Die ehrwürdigen Ruinen Amon Sûls
blieben somit vor meinem zerstörerischen Forschungsdrang verschont. Irgend
etwas sagte mir, daß Radagast dort keine Spuren hinterlassen wollte, die ein
erfahrener Waldläufer noch Monate später entdecken würde... Oh ja. Radagast
hatte wirklich nicht die beste Meinung von mir!
Von hier
an wurde das Gelände zunehmend unfreundlicher. Hatte es erst nur vereinzelte
grüne Büsche zwischen saftigen Weiden gegeben, so änderte die Erde jenseits der
Moore vollständig ihr Gesicht. Das Klima wurde erst feuchter, drückender – wohl
noch bedingt durch den direkten Einfluß der Moore – dann wurde der Boden immer
karger. Das Gras wuchs nicht mehr so dicht und ließ den nackten Lehmboden
durchblicken. Das Buschgebiet nahm rapide zu und ebenso die Gelb- und Brauntöne
der Vegetation. Selten genug sorgte ein Baum für etwas Abwechslung in der Ödnis
und wenn, dann war er alt, morsch und völlig verunstaltet.
Vor genau
so einem krüppeligen Exemplar hielten wir gerade unsere Pferde an. Ich kann
nicht sagen, was es für eine Baumart, noch, ob sie mittelerdetypisch oder auch
auf unserer Erde beheimatet war. Die Rinde war an vielen Stellen aufgesprungen
und ein dicker Wulst von etwa einem Meter zog sich der Länge nach über den
Stamm. Vor ewigen Zeiten mußte wohl einmal ein Blitz in diesen Baum eingeschlagen
haben, denn darüber war er beinahe bis zur Hälfte gespalten. Die unteren Äste
waren schwarz versengt und hingen trostlos herab, während oberhalb der
Verletzung auf unerklärliche Weise neue Knospen ihren Weg ans Sonnenlicht
gefunden hatten und bizzare dürre Triebe hervorsprossen.
„Oh Mann!
Der Baum hat ein Problem!“ blaffte ich und schielte in die Zweige hinauf.
Dieses...
Etwas... stand wie die Spitze eines Schiffbugs vor einem Wald aus Dornen,
Dornen und... Dornen! Dornen, so hoch wie ein doppelstöckiges Haus! Man hatte
ungefähr das Gefühl, vor dem verwunschenen Schloß eines deutschen Märchens zu
stehen – abgesehen davon, daß das Gebäude fehlte und einzig die Dornen
übrigblieben...
„Wir
müssen hier absteigen“, sprach Radagast, tat so und führte seinen Braunen unter
dem verkohlten Ast dieses mißgestalteten Baumes hindurch und – war
verschwunden!
Ich
glotzte erst einmal blöd, folgte dann aber seinem Beispiel – weniger, weil ich
daran glaubte, mit meinem Pferd ebenfalls in dem vermutet engen Zwischenraum
von Baum und Dornen Platz zu finden, als um nicht mutterseelenallein hier herum
zu stehen. Die Sonne berührte nämlich bereits den Horizont und von Ferne
drangen ungemütliche Laute an meine Ohren, die sicherlich keinen freundlichen
Kreaturen zuzuordnen waren.
Sogleich
herrschte empfundene tiefe Finsternis. Ich mußte meine Augen eine Weile an die
neuen Lichtverhältnisse gewöhnen, bevor ich wieder irgend etwas zu erkennen
vermochte. Zunächst war dieses „Etwas“ nicht viel. Nur, daß Radagast nicht mehr
hier war. Brasfaloth schubste mich mit ungeduldigen Nasenstöbern nach vorne und
obwohl ich befürchtete, mich an den spitzen Dornen aufzuspießen, folgte ich
zögernd seinem Drängen.
„Radagast?“
zischte ich in die Dunkelheit. „Wo steckst du? Wo willst du überhaupt hin?
Radagast?“ rief ich ängstlicher, als keine Antwort kam. „Ra-“
„Mach
nicht so einen Lärm!“ schimpfte der Istar endlich in meine Erkundigung hinein.
Mir lag
bereits eine bissige Erwiderung auf der Zunge, aber dann stolperte ich über
eine Wurzel, riß mir den Ärmel an einer der zahlreichen Dornenranken auf und
unterdrückte mit einem schmerzlichen Schnaufen eine noch gröbere Bemerkung.
Hinter
mir erklangen lautes Knurren und Grunzen und wütende Schreie in einer
abscheulich kratzenden Sprache. Ich vollbrachte das Kunststück, lautlos
zischend die Luft einzuatmen und riß entsetzt die Augen auf. Nicht, daß mir
dies zu besserer Sehkraft verholfen hätte. Das war auch gar nicht nötig.
Brasfaloth sah für uns beide und schob mich Schritt für Schritt einen schmalen,
gewundenen Gang durch diesen Urwald entlang. Weder die unbeschlagenen Hufe der
Pferde, noch unsere ledernen Sohlen verursachten auf dem Boden das geringste
Geräusch und ich bemühte mich ehrlich, nicht wieder an irgend einer Schlinge
hängen zu bleiben.
Dabei
lauschte ich gebannt hinter mich. Was auch immer da draußen war, es war auf
Ärger aus und hatte unsere Spur aufgenommen!
Denn
jetzt mischte sich heiseres, triumphierendes Kläffen in die Knurr- und Schimpflaute.
Brasfaloth schob mich so heftig voran, daß ich gegen das Hinterteil von
Radagasts Pferd stieß und meine Hände panikartig in seinen Schweif verkrampfte.
Der sonst so scheue Braune wehrte sich nicht dagegen. Mit dieser
Orientierungshilfe ging es nun in wilder Hast durch die dornigen Büsche und
Sträucher. Ganz vorne Radagast, der den Weg so gut zu kennen schien, daß er ihn
wohl auch in völliger Dunkelheit gefunden hätte, ihm folgte sein Brauner mit
weitausgreifenden Schritten. An seinem Hintern hing eine verzweifelt hinterher
stolpernde Elli, mit wild zerzausten Haaren und zerrissenem Hemd und wurde
zusätzlich von einem ungeduldig schnaubenden Schimmel vorangeschoben.
In
ausgesprochen unbefriedigendem Abstand folgte uns die jaulende Meute.
Als wir
endlich aus diesem Urwald herauskamen, umfing uns Dämmerlicht. Für unsere an
die Dunkelheit gewöhnten Augen war dies verhältnismäßig hell. Schnaufend blieb
ich stehen und strich mir mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht, um
besser sehen zu können.
Was ich
sah, verschlug mir meinen bereits nicht mehr vorhandenen Atem:
In diesem
Dornenwald gab es tatsächlich ein Schloß! Naja, Schloß ist nicht richtig. Es
war eine Festung. Und was für eine! Nur 30 Meter vor uns erhob sich eine breite
und hohe Palisade aus dicken Baumstämmen, aufrecht aneinander gereiht und nach
oben zugespitzt. An den beiden sichtbaren Ecken waren diese Stämme noch um ein
gutes Stück höher und schienen eine Art Turm zu umschließen. Im rechten Drittel
öffnete sich soeben ein schweres Tor und mehrere Reiter sprengten in wildem
Galopp hindurch, uns entgegen. Die Hufe ihrer Pferde schlugen dumpf auf die
Bretter der kleinen Brücke, die über den umzingelnden Graben führte.
Mir blieb
keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen. Radagast drängte um Eile. Wir
befanden uns noch immer in Reichweite des Dornengestrüpps und die Schreie
hinter uns verkündeten die baldige Ankunft unserer Verfolger. So schnell war
ich bisher noch nie auf Brasfaloths Rücken geklettert. Die Angst verlieh mir im
wahrsten Sinne des Wortes Flügel!
In der
Mitte des Weges trafen wir mit den Verteidigern der Feste zusammen. Radagast
riet mir, weiterzureiten, während er selbst sein Pferd wendete. Natürlich mußte
ich nun ebenfalls Brasfaloth anhalten, um zurückzusehen. Eine unwillkürliche
Reaktion, gegen die ich einfach nichts tun konnte.
Schnarrend,
kreischend, knurrend und jaulend kamen fünf Bestien nacheinander durch die
schmale Öffnung. Sie besaßen eine entfernte Ähnlichkeit mit Wölfen, waren
jedoch bedeutend größer. Auf jeder saß einer dieser ekligen kleinen Orks, denen
ich nun schon zweimal begegnet war, und fuchtelte mit einem unförmigen
Gegenstand in der Luft herum. Als das erste Paar die Lichtung erreichte,
stoppte es beim Anblick der schwer bewaffneten Gegner abrupt. Die Nachkommenden
prallten in es hinein und so weiter, bis sie alle ein unordentliches, zugleich
aggressiv und erschreckt schreiendes Knäuel bildeten.
Die
Verwirrung verschaffte den Verteidigern – ebenfalls zu fünft, wenn man Radagast
nicht mitzählte – einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Als sie sie
erreichten, fanden sie kaum Gegenwehr. Zwar fletschten die Warge furchterregend
die Zähne und sträubten ihre Nacken- und Rückenhaare, kamen aber wegen der
langen Schwerter nicht an die Reiter heran und umkreisten sie tapfer aber
aussichtslos. Die verbliebenen Orks waren gleich nach der ersten Attacke, bei
der mal eben drei von ihnen einfach so hinweggeputzt worden waren, völlig
entmutigt in Richtung Ausgang geflüchtet, wo einer der Menschen sie bereits mit
blanker Klinge erwartete. Wie er so schnell um die Eindringlinge herum und in
ihren Rücken gekommen war, war mir bei der Geschwindigkeit, mit der alles
ablief, total entgangen.
Nun waren
nur noch die Warge übrig. Sie umkreisten die Fünfe und einer versuchte sich auf
den abseits stehenden Einzelkämpfer zu stürzen, wurde aber auf halbem Sprung
hinauf zum Pferd, von dessen Schwert durchbohrt.
Ich
stand, beziehungsweise saß auf meinem Platz und starrte halb fasziniert, halb
angewidert auf das Schauspiel. Meinen schlechten Augen zufolge, konnte ich auf
diese Entfernung das spritzende Blut wohl nicht deutlich genug erkennen, um in
die übliche Ohnmacht zu fallen. Und der Dummheit der Warge sei dank, kam keiner
von ihnen auf den Gedanken, die dämliche kleine Mary-Sue anzugreifen, die kaum
mehr als zehn Meter entfernt wie auf dem Präsentierteller saß und eben nicht –
wie sie scheinbar annahm - in einem gemütlichen Kinosessel.
Die
Bestien waren nach dem Tod ihres Kameraden vorsichtiger geworden und gaben sich
keine weitere Blöße. Fast hatte es den Anschein, als würde dieses makabere
Spielchen bis tief in die Nacht andauern. Da hörte ich ein leises Zischen
hinter mir und fuhr erschrocken herum. Es war von dem nächstgelegenen der
beiden Wachttürme gekommen. Dort oben standen drei Bogenschützen und einer von
ihnen legte erneut einen Pfeil auf die Sehne. Die anderen sahen entspannt
hinüber zum Schlachtfeld. Der Pfeil sirrte durch die Luft und als ich mit dem
Blick seiner vermuteten Flugbahn folgte – denn das Geschoß selbst konnte ich
natürlich nicht erkennen – brach der letzte Warg stöhnend zusammen. Der Horror
war zuende.
„Tilge
die Spuren!“ befahl jener Mann, der den Ausgang verteidigt hatte, einem anderen
und lenkte sein Pferd auf Radagast zu. Der Angesprochene verschwand schweigend
durch die Dornenhecke.
„Ihr habt
eine schlechte Tageszeit gewählt. Ihr hättet wissen müssen, daß es nicht sicher
ist, das Tor nach Einbruch der Dunkelheit zu passieren“, tadelte er den
Zauberer sanft.
Dieser lächelte
wehmütig. „Es ist weit gefährlicher, vor Euren Toren zu nächtigen, mein Freund.
Außerdem hatten Eure Späher uns längst bemerkt.“
Die
beiden begrüßten sich, wie gute Bekannte, mit einem derben, aber herzlichen
Handschlag.
„Sie
waren nicht sehr geschickt, wenn Ihr sie entdeckt habt“, grinste der Mensch.
„Kommt. Wir wollen hinein gehen. Das Nachtmahl ist bereitet. Auch in dieser
Beziehung habt Ihr Euch nicht verändert.“
Radagast
brummte fragend und der Mensch lachte leise auf. „Ihr hattet schon immer einen
sehr feinen Geruchssinn für die gute Küche meines Weibes. Leugnet es nicht!“
„Ich
leugne es nicht“, lachte nun auch der Alte gut gelaunt und zwinkerte dem
anderen zu. „Aber diesmal überschätzt Ihr meine Fähigkeiten, Tirgam.“
Endlich
wandten die beiden sich nun in meine Richtung. Die anderen blieben zurück, um
den Kampfplatz aufzuräumen. Sie beachteten mich nicht sogleich, sondern
wechselten ein paar freundliche Floskeln, während sie gemächlich auf mich
zugeritten kamen. Um ehrlich zu sein hatte ich eher den Eindruck, sie hielten
nicht auf mich, sondern das Tor zu, und ich stand dabei nur rein zufällig im
Weg...
„Es ist
lange her, daß Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt hab, Radagast.“
„Das ist
richtig“, pflichtete der Zauberer bei und zuckte unschuldig die Achseln. „Ihr
wißt, ich reise nicht viel.“
Bei
dieser Bemerkung unterdrückte ich halbherzig einen Hustenanfall und fand
endlich aus meinem entrückten Zustand zurück in die Gegenwart. Ein
vorwurfsvoller Blick Radagasts war mein Lohn für diese Ungezogenheit, doch war
es mir damit wenigstens gelungen, die Aufmerksamkeit der beiden auf mich zu
lenken. Es war ja nicht so, als ob ich mich unbedingt in den Vordergrund
drängen wollte, doch so völlig ignoriert zu werden, war nach dem, was sich
gerade ereignet hatte, nicht wirklich angenehm.
„Und wer
ist diese junge Dame?“ erkundigte Tirgam sich freundlich, wobei er diskret mein
ganz und gar nicht gesellschaftsfähiges Äußeres übersah.
„Ihr Name
ist Elanor“, stellte Radagast mich vor, als wäre es nicht schicklich für mich,
dies selbst zu übernehmen. „Ein tragisches Schicksal hat sie weit fort von
ihren heimatlichen Gefilden in diese Gegend geführt und nun suche ich einen
Ort, an dem sie verweilen kann, bis es für sie sicher ist, nach Hause
zurückzukehren. Ich gedachte, sie in Eure Obhut zu geben, mein Freund. Doch
dies zu besprechen, ist auch später noch Zeit. Ich werde Euch dazu wohl einiges
zu erklären haben.“
Nach
Hause zurückzukehren... Wenn Radagast beabsichtigt hatte, mir seelischen
Schmerz zuzufügen, so war ihm dies wunderbar gelungen. Augenblicklich schossen
mir Tränen in die Augen. Warum tat er das? Er wußte so gut wie ich, daß ich nie
wieder nach Hause zurückkehren konnte!
Tirgam
deutete meine Reaktion zugleich richtig und falsch und legte mir sachte eine
Hand auf den Unterarm.
„Kommt
erst einmal mit hinein. Ihr seht erschöpft aus von der langen Reise. Eine warme
Mahlzeit wird Euch gut tun. Hier seid Ihr sicher. Nichts wird Eure Nachtruhe
stören, das verspreche ich Euch.“
Ich
nickte verheult und bemühte mich um wenigstens etwas Haltung. Am Rand des
Dornenwaldes schoben oder hoben die Männer an den Kadavern der Warge herum. Die
Dunkelheit hatte rapide zugenommen und ich konnte nur undeutliche Schatten
erkennen, aber sie atmeten schwer bei der anstrengenden Arbeit und riefen sich
knappe Anweisungen zu, um die Vorgehensweise zu koordinieren. Ein bitterer
Geruch lag in der Luft und schnürte mir den Hals zu. Ich spürte, wie mir das
Blut aus dem Kopf herabsackte und wandte mich angeekelt ab.
Bevor ich
noch reagieren und mich selbst an meine Höhenangst erinnern konnte, hatten wir
die kleine Brücke auch schon überquert und ritten durch das Tor.
Gleich
rechts daneben schmiegte sich längsseits ein stattliches Gebäude an die Palisade.
Es war aus den gleichen dicken Stämmen errichtet wie diese und mit einem recht
flach zur Mitte zulaufenden Dach ausgestattet. An seiner gegenüberliegenden
Ecke war eine einzige Fackel in einem Halter an der Hauswand entzündet und warf
einen schwachen Lichtschein vor das Tor.
Linker
Hand befand sich ebenfalls ein Gebäude, mit der Rückwand zur Palisade. Der Weg
zwischen beiden hindurch, führte auf einen freien Platz. Als wir dann nach
links um die Ecke bogen, erkannte ich gleich hinter dem ersten, noch ein
zweites Haus, aus dessen Fenstern der Schein mehrerer Kerzen, Fackeln oder auch
eines Kaminfeuers den schmalen Gang zum nächsten, ebenso langen Gebäude
erhellte. Dadurch war der Platz hier um die ganze Breite des voranstehenden
Hauses weiträumiger, als gleich hinter dem Tor.
Dafür war
ein weiteres Gebäude zur Rechten wiederum weiter vorgezogen worden, so daß
danach der Durchgang erneut verengt wurde. Die Flucht zwischen diesen beiden
Häuserreihen verlief sich in der Dunkelheit und ließ weitere Bauwerke nur
erahnen.
Irgendwoher
kamen zwei junge Burschen gelaufen und nahmen sich unserer Pferde an. Ich ließ
mich halbblind und geistig nicht wirklich bei der Sache von Tirgam durch den
schmalen Gang zu dem beleuchteten Haupthaus leiten.
Hunderte
Gedanken gingen mir gerade durch den Kopf, aber nicht ein einziger, der sich
mit meiner aktuellen Situation befaßt hätte oder auch nur nützlich gewesen
wäre. Ich träumte, wie man so schön sagt, mit offenen Augen vor mich hin und
bemerkte erst wieder wo ich mich befand, als ich tapsig über die Türschwelle
stolperte und mit dem Schwung, mit dem ich in die Stube fiel, beinahe ein Regal
umgerissen hätte.
„Da seid
ihr ja endlich!“ begrüßte uns eine freundliche Frauenstimme.
Ich
wandte mich von dem verschonten Möbelstück ab und herum und suchte mich zu
orientieren. Mein Gesichtsausdruck muß dabei nicht der allerhellste gewesen
sein, denn von rechts herüber erklang unterdrücktes Kichern.
„Ich habe
bereits für euch gerichtet“, ließ die ältere Dame – wie ich zurecht annehmen
durfte, die Hausherrin – sich nicht stören und deutete auf zwei frische
Gedecke. „Setzt euch! Kommt, kommt!“ Sie wedelte uns auffordernd mit den Armen
heran, drängte uns mütterlich auf die beiden Stühle und gab nicht eher Ruhe,
bis wir einen ordentlichen Schlag wirklich köstlich duftenden Eintopfes in den
Schalen hatten und zu essen begannen.
Tirgam
umarmte sein Weib liebevoll und ließ sich von ihr dann ebenso fürsorglich auf
seinen Platz schieben. Ich schmunzelte. Die beiden waren ein hübsches Paar.
Nicht mehr jung und auf Wolke Sieben schwebend, sondern älter, gereifter,
bodenständiger, aber dennoch ganz offensichtlich über beide Ohren verliebt. Die
tiefen, vertrauten Blicke voller Zuneigung sprachen Bände.
Jetzt
erst nahm ich mir die Zeit, mich umzusehen. Der ganze Raum bestand eigentlich
nur aus einem großen Tisch, an dem etwa dreißig Personen saßen. Männer, Frauen.
Keine Kinder. Was mich sogleich für diese kleine Gesellschaft einnahm war, daß
sie alle aussahen, als kämen sie gerade von Feld oder Stall. Sprich, sie hatten
sich noch nicht von der Arbeit gereinigt und ich fiel in meinen staubigen
Reisekleidern und mit den zerzausten Haaren nicht weiter unangenehm auf.
Aus den
Augenwinkeln musterten sie mich ebenso neugierig, wie ich sie und ein junges
Mädchen grinste mich ganz offen und sehr sympathisch an. Ich vermutete stark,
daß sie diejenige war, die über mein Ungeschick so gekichert hatte. Sie mochte
vielleicht zwanzig Jahre alt sein. Ihre langen schwarzen Haare waren im Nacken
zu einem dicken Knoten gebunden, aus dem sich mehrere widerspenstige Strähnen
gelöst hatten, die sie alle paar Minuten hinter ihre Ohren strich.
Überhaupt
hatten alle dunkle bis schwarze Haare und trotz der unsauberen, verschwitzen
und bäuerlichen Kleidung wirkten alle irgendwie – edel. Ich rümpfte die Nase.
Nein, das war nicht der rechte Ausdruck. Und doch. Sie machten einfach auf mich
nicht den Eindruck von Stallburschen und Mägden. Aber ich mochte mich auch
irren. Schließlich taten sie gerade nichts anderes als ihren Eintopf schlürfen
und die Gäste mustern. Dazu gehörte wohl kaum ein besonderes Quantum an
geistiger Beweglichkeit oder noblem Charakter.
Außer dem
Tisch gab es natürlich eine ganze Menge Stühle und an den Wänden rundherum
einige Regale mit Geschirr, Töpfen, Pfannen und sonstigen
Gebrauchsgegenständen. In einer Ecke befand sich ein großer offener Kamin und
gleich daneben lag die rustikale Kochstelle. In einem gußeisernen Topf köchelte
der Rest des Abendessens an einem Haken über dem Feuer. Dieses und eine Öllampe
in der Mitte des Tisches waren die einzige Beleuchtung. Die Wände waren mit
weichen Fellen tapeziert und es hingen alle möglichen Gerätschaften daran, die
ich nicht kannte und die wohl deshalb und wegen des schwachen Lichts einen
ziemlich abenteuerlichen Eindruck auf mich machten.
Gesprochen
wurde nicht viel und ziemlich bald nach dem Essen löste sich die Gemeinschaft
auf. Es war Hochsommer. Die Sonne war spät untergegangen und diese Menschen
hatten einen langen und anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Morgen würden sie
bereits mit den Hühnern aufstehen. Ich gähnte herzhaft und verbot mir, mich
dazu genüßlich zu räkeln. Einer nach dem anderen verschwand mit einem kurzen
Nachtgruß aus dem Haus und bald saßen nur noch die Hausherren, Radagast und ich
am Tisch.
„Dies ist
meine Gattin Míriel“, stellte Tirgam seine Frau vor und wiederholte ihr
Radagasts Worte zu meiner Person. Erneut wollten sich Tränen in meinen Augen
sammeln, doch es gelang mir, sie mit einem gezielten Zusammenkneifen der Brauen
zu verdrängen.
„Sie kann
bei uns bleiben, solange es ihr gefällt“, versprach der Mann, „nicht wahr?“
holte er noch kurz die Zustimmung seiner Gemahlin ein. Die nickte lächelnd.
„Ihr
solltet dies nicht so leicht nehmen.“ Radagast lehnte sich zurück und kramte
sein Pfeifchen hervor. „Es ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß die
Schergen des Dunklen auf der Suche nach Elanor sind. Ich finde darüber solltet
ihr unterrichtet sein, bevor ihr dem Mädchen Zuflucht anbietet.
Verdutzt
sah ich den Alten an. Wieso sagte er so etwas? In Bruchtal und im
Waldelbenreich hatte er die Leute doch auch nicht vorgewarnt. Oder etwa doch?
Außerdem wußte niemand von mir. Also nicht wirklich. Eigentlich.
„Es ist
gut, Radagast.“ Tirgam ballte die Hand zur Faust und senkte sie entschlossen
auf den Tisch. Seine Stimme war hart wie Stahl und seine Miene drückte tiefen
Ernst aus. „Ihr wißt, gerade unter diesen Umständen würden wir niemals einem
Kind Erus Schutz und Hilfe verweigern. Was beabsichtigt Ihr also mit Euren
Worten? Wollt Ihr unsere Wachsamkeit erhöhen? Seit jeher haben wir den
Kreaturen der Finsternis getrotzt. Denkt Ihr wirklich es mache einen
Unterschied, welche Absichten sie bewegen, uns in unseren Heimen zu suchen?
Unsere Felder zu vernichten und unsere Kinder zu rauben?“
Er war
langsam aufgestanden und hatte die Stimme über die gewöhnliche Lautstärke
erhoben. Míriel schluchzte leise.
„Verzeiht.“
Ächzend setzte er sich und fuhr mit der flachen Hand über die Stirn. „Wir haben
schlimme Nachrichten von unseren Familien erhalten. Der Schmerz ist noch zu
frisch.“ Er legte einen tröstenden Arm um sein Weib und zog sie leicht an sich.
Radagast
brummte entschuldigend. „Was ist geschehen?“
„Das...“
- Er warf einen bezeichnenden Blick in meine Richtung – „erzähle ich Euch ein
andermal.“ Was wohl soviel heißen sollte wie: ist nichts für die Ohren einer
jungen Frau.
Eine
lange Weile herrschte Stille und wir sahen alle vier den munteren Rauchkringeln
nach, die Radagast über den Tisch hüpfen ließ. Dann stand Míriel auf, nahm eine
Pfeife vom Regal, stopfte sie sorgfältig und reichte sie ihrem Gemahl, nachdem
sie sie selbst mit einem Kienspan vom Herd in Brand gesteckt hatte. Es war ein
seltsamer Anblick - eine altertümlich gekleidete Frau mit einer Pfeife im Mund
- auch wenn er nur einen kurzen Moment andauerte.
Sehnsüchtig
folgte mein Blick jeder ihrer Bewegungen. Dann war ich dreist genug meine
eigene Pfeife hervor zu kramen und meinen leeren Tabaksbeutel dazu und mit
aufgesetzter Sorgfalt die allerletzten Krumen darin zusammen zu suchen. Bei
diesem Tun verfolgten mich zwei erstaunte Augenpaare. Radagast räusperte sich
gezwungen.
„Ich
sagte doch, sie kommt von weit her.“ Es klang ganz selbstverständlich, dennoch
traf mich sein tadelnder Blick und er schüttelte andeutungweise den Kopf über
mein unmögliches Benehmen.
Ich
zuckte die Schultern. „Hab ich was falsch gemacht?“ fragte ich mit unschuldigem
Wimpernaufschlag.
Radagast
schwieg.
Míriel
war umsichtige Gastgeberin genug, mir das tönerne Gefäß mit dem Kraut meines
Begehrens zu reichen. Es war aufwendig mit feinen Schriftzeichen verziert, die
ich bei dem schwachen Licht und ohne aufdringlich neugierig zu wirken, nicht
entziffern konnte. Den Deckel schmückte das Bild zweier ineinander
verschlungener Bäume.
Der Rest
des Abends verlief wie man sich einen Abend auf einem Bauernhof vorstellen
mochte: Man redete über das Wetter, über das Vieh – die Gescheckte hatte letzte
Nacht gekalbt - , über das Heu, das es morgen zu wenden galt und das am Tag
danach eingebracht werden sollte, über das Wetter, das sich hoffentlich lange
genug halten würde.
Ich
gähnte.
„Elanor
wird Euch bei allen Arbeiten zur Hand gehen“, versprach Radagast gerade und ich
klappte lautstark den Mund zu. „Sie versteht nicht viel von Landarbeit. Ich
fürchte Ihr werdet sie vollkommen neu einweisen müssen.“ Er lächelte
verbindlich und ich glotzte ihn sprachlos an. „Aber sie wird sich schon
hineinfinden. Nicht wahr?“
„Hmpf...“,
war alles, was ich zu meiner Verteidigung hervorbrachte. So unerfahren wie der
Alte dachte, war ich nun wirklich nicht! Der würde sich noch wundern!
Leider
blieb Radagast nicht lange genug dazu bei uns. Bereits früh am nächsten Morgen
verabschiedete er sich von uns. Die unterschiedlichen Weisungen und Ratschläge,
die er betreffend meiner Person für die guten Bauersleute hatte, konnte man in
etwa auf diesen einen Nenner bringen: Sie kommt von weit her und benimmt sich
seltsam. Haltet sie verborgen und wundert euch über nichts!
~*~