„Wann
erwartet ihr eigentlich die Jäger zurück?“ Vor einigen Tagen waren fünf Männer
auf den wenigen Pferden der Siedlung fortgeritten. Zur Jagd, wie ich natürlich
angenommen hatte.
„Sind
keine.“ Mirwen hatte sich gerade eine besonders dicke und saftige Frucht in den
Mund geschoben. So blieb kein Platz für ausführlichere Worte.
„Wer und
was?“ fragte ich nicht minder ungenau, aus eben demselben Grund.
„Die
Jäger.“
„Sind was
nicht?“
In
unserer tiefgründigen Unterhaltung entstand eine kurze Pause, als wir uns zu
dritt bemühten, den Handkarren in Bewegung zu setzen. Bei dem Ruck fielen gleich
mehrere Zwetschen wieder von dem hoch aufgetürmten Stapel herunter – wir ließen
sie einfach liegen, da sie uns ja doch nicht davonlaufen konnten. Einmal in
Schwung, schafften wir es dann fast mühelos, das Gefährt zum Hof zu bringen,
und so setzten wir auch unser Gespräch fort.
„Es sind
keine Jäger“, erklärte Ivoreth ernsthaft. „Hast Du schon einmal von den
Waldläufern des Nordens gehört?“
Da befand
ich mich nun aber in einer wirklichen Zwickmühle. Durfte ich oder sollte ich
nicht? Ich beschloß, mich unwissend zu stellen – schließlich kam ich aus einem
fernen Land – und schüttelte großspurig den Kopf.
„Sollte
ich?“ sprach ich einen Teil meiner Gedanken offen aus.
Mein
Mangel an Kenntnis bereitete Mirwen offensichtliche Freude. Sie drehte die
lilafarbene Frucht dreimal in der Hand herum, biß schmatzend die Hälfte ab,
leckte sich mit der Zunge über die Lippen und warf mir einen naiv-überlegenen
Blick zu.
Das
ärgerte mich dann doch ein bißchen, weil ich nun einmal nicht zu den Leuten
gehöre, die gerne für dümmer gehalten werden, als sie sind. Vor allem deshalb,
weil ich so selten die Gelegenheit dazu hatte, einen Beweis meiner Klugheit
anzutreten, die, das wußte ich ganz bestimmt, in irgend einem gut verborgener
Teil meines Ichs schlummerte.
„Die
Männer gehen erst nach der Ernte auf die Jagd“, erklärte Ivoreth indessen
bereitwillig. „Solange wird hier jede Hand gebraucht.“
„Aber
fünfe sind doch fortgeritten?“ Ich bemühte mich, meinen angeschlagenen Ruf
wieder herzustellen und dachte deshalb jetzt besonders scharf nach.
Wenn sie
nicht auf der Jagd waren und eigentlich zur Ernte benötigt wurden, mußte ihr
Fortreiten einen triftigen Grund haben.
„Aber
Elanor, hast du denn nicht bemerkt, daß sie nur diejenigen abgelöst haben, die
am Abend zuvor hereingekommen sind?“
Ich haßte
es, wenn sie mich bei meinem vollen Namen nannte! Haßte es, weil dies stets in
Verbindung mit einer schulmeisterlichen Belehrung einherging und dehalb, weil
dieses junge Mädchen für meinen Geschmack viel klüger war, als es ihrem Alter
eigentlich zustand. Nun gut, es hatte nichts mit Klugheit zu tun, wenn sie mir
etwas über die Organisation in der Siedlung mitteilte, von der ich nichts
wissen konnte.
Dafür
verfügte ich jedoch über andere Quellen der Weisheit, aus denen ich wenigstens
soviel hätte schöpfen können um einzusehen, was ich erst später erfuhr.
Nämlich, daß Ivoreth weit älter war, als sie aussah und mich deshalb mit vollem
Recht als Gleichaltrige behandelte.
Davon
ahnte ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nichts und fühlte mich deshalb berufen,
das Mädchen auf seine Ungezogenheit aufmerksam zu machen, was von ihr mit einem
glockenklaren Lachen erwidert wurde.
Auch
Mirwen fand meine Belehrung sehr erheiternd und klärte mich mit wichtiger Miene
darüber auf, daß ich gerade die Tochter des Hauses getadelt hatte.
„Es
schickt sich dennoch nicht!“ bestand ich auf meinem Recht und bemühte mich, mir
meinen Ärger nicht anmerken zu lassen, denn weit heftiger als dieser, zwickte
mich meine unverbesserliche Neugierde.
Es wollte
mir einfach nicht gelingen, auf die doch so naheliegende Lösung des
Geheimnisses zu kommen, welches zwar die Fremde aus dem fernen Land nicht
wissen konnte, dafür aber klein Elli von der Erde, die doch eigentlich mit den
drei Hauptbänden des Meisters aus Oxford bestens vertraut war, unbedingt hätte
erahnen müssen.
Ivoreth
schien mit sich zu Rate zu gehen, wieviel sie mir von den Gepflogenheiten ihrer
Leute erzählen durfte und entschied sich schließlich für ein versöhnliches:
„Sie wachen außerhalb der Wälder über die Sicherheit der Siedlung.“
Jetzt
endlich ging mir der berühmte Kronleuchter auf! Sie wachen über die Siedlung...
Blödsinn! Sie wachen über das Auenland! Ja doch! Die Waldläufer des Nordens
wachten zu dieser Zeit über die Sicherheit des Auenlandes. Auf Bitten Gandalfs,
wenn ich das noch richtig in meinem unzuverlässigen Kopf hatte, und weil dieser
sich noch nicht im Klaren über die Bedeutung des goldenen Ringes war, den Bilbo
auf ihrer gemeinsamen Reise gefunden hatte. Oder nein. Inzwischen mußte ihm
längst bekannt sein, daß es sich dabei um den Einen handelte.
Wieder
einmal gelang es mir nicht, die Begebenheiten in die richtige zeitliche
Reihenfolge zu bringen. Während es mir nämlich gar leicht fiel, die Ereignisse
so, wie die Filme sie erzählten zu merken, tat ich mich unglaublich schwer, sie
so zu behalten, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatten.
Eines
aber wußte ich mit Sicherheit: Die Entdeckung der wirklichen Bedeutung des
Ringes lag weit vor Frodos Aufbruch aus dem Auenland und ging diesem nicht, wie
im Film, unmittelbar voraus. Frodo hatte von diesem Augenblick an noch längere
Zeit in Beutelsend gewohnt und seine Abreise sehr genau vorbereitet, so daß sie
unauffällig sein sollte und nicht sogleich entdeckt würde.
Über
diesen Gedanken hatte ich halblaut – zum Glück in meiner Muttersprache – mit
mir selber gesprochen und dabei die unsinnigsten Grimassen geschnitten. Als ich
nun aufblickte, wurde ich von beiden Seiten mit großen Augen betrachtet.
„Ähm...“,
war alles, was ich zu meiner Verteidigung sagen konnte, bevor die zwei in
heiteres Lachen ausbrachen und da ich nichts besseres vorzubringen hatte,
stimmte ich erst zögerlich mit ein und wurde dann in den ansteckenden Sog
gezogen.
So fuhren
wir glucksend und kichernd in den Hof und brachten den Karren hinüber zum
Wirtschaftsgebäude, wo die süßen Früchte später weiterverarbeitet werden
sollten.
Vor dem
Stall wurden die Elbenpferde mit frischem Heu bedient und konnten ihren Durst
an der Viehtränke stillen. Sie machten einen sehr zufriedenen Eindruck,
besonders weil ihnen eine der Mägde mit einem großem Schwamm und reichlich
Wasser den Schweiß abwusch.
Wir drei
Pflaumennascher fanden uns – trotz Mangel an Hunger als erste – zum
Mittagstisch ein; da waren nur die Elben mit den Hausherren schon vor uns in
der Stube. Leider hatten die Boten ihren Bericht soeben abgeschlossen und
deshalb konnte ich nicht hören, worum es darin ging. Zu fragen getraute ich
mich jedoch nicht. Es genügte ein einziger Blick in das Gesicht ihres
Anführers, den Ivoreth mir als Gildor bezeichnet hatte, um zu erkennen, daß es
sich um keinen gewöhnlichen Elben handelte.
War ich
im grellen Sonnenlicht nicht sicher gewesen, ob dieses mir einen Streich
gespielt hatte, so konnte jetzt kein Zweifel mehr bestehen bleiben. Ich gebe
zu, daß ich einen nicht wirklich kurz zu nennenden Moment in der Türschwelle
stehenblieb, um seine wundervolle Erscheinung einfach nur anzustarren. Man möge
mir dies aber verzeihen, denn obwohl ich inzwischen die unterschiedlichsten
Vertreter der elbischen Rasse erblickt hatte... Noch nie zuvor in meinem Leben
war ich jemandem begegnet, dessen Haar auf solch faszinierende Weise
hell-silbrig glänzte!
Und hey!
Ich meine silbrig! Nicht dieses
fürchterliche Eisgrau, welches die Filmemacher dem armen Celeborn zugemutet
hatten! Naja, gut, das war immerhin noch besser gewählt, als wenn sie ihm eine
Lametta-Perücke auf den Kopf gestülpt hätten...
Nein.
Diese Haare leuchteten wie reinstes Silber! In einer Weise, die man nicht
beschreiben und deren Schönheit man nicht erfassen kann, wenn man sie nicht mit
eigenen Augen gesehen hat!
Ich stand
also da und glotzte. Ivoreth und Mirwen schoben sich leise an mir vorbei und
halfen Míriel dabei, den schweren Eisentopf vom Haken zu heben. Tirgam lächelte
mich verstehend an, was ich nur ganz am Rande realisierte. Und Gildor? Gildor
warf mir einen solch hoheitsvollen und doch freundlichen Blick zu, daß mir die
Knie weich wurden und ich mich nach einer Stütze umsehen mußte.
Die fand
ich, oder glaubte wenigstens sie zu finden, in dem Regal gleich neben der Tür –
denn weiter war ich ja noch nicht in die Stube hinein gekommen. Es gab ein
lautes Knarzen und eh ich mich versah, kullerte ein tönerner Trinkbecher vom
obersten Brett herunter, wurde gerade noch von mir gepackt, als er auf
Brusthöhe angelangt war, und bevor ich die Hände wieder frei kriegen konnte,
folgte das gesamte Sortiment nach.
Im
Reflex, wenigstens noch eine Tasse zu erwischen, ließ ich die erste wieder
fallen, stieß mit dem hochgezogenen Knie gegen das untere Brett und hob dieses
dadurch irgendwie aus den Angeln, so daß mir die darauf befindlichen
Gegenstände ebenfalls entgegen gefallen kamen. Das ganze Möbelstück verlor nun
plötzlich seinen Halt und >Krawumm< stürzte es kopfüber zu Boden.
Wie es
mir gelungen war, noch rechtzeitig zur Seite zu springen und nicht unter allem
begraben zu werden, wußte ich anschließend nicht mehr.
Allerdings
gab es mir etwas zu denken, daß der für den ganzen Schlamassel verantwortliche
Elb jetzt an meiner Seite stand und seinen Arm von meiner Taille löste.
Unnötig
zu erwähnen, wie rot ich anlief und wie sehr ich mich in stotternden
Entschuldigungen verfing.
Ausgerechnet
jetzt öffnete sich auch noch die Tür und die hungrigen Knechte und Mägde traten
ein. Allen voran die ’Neth.
Ein Blick
auf die Unordnung genügte, und der Schuldige stand für sie fest.
Da setzte
es ein gehöriges Donnerwetter, ich wurde zum Strafdienst eingeteilt und von den
Hereinkommenden ordentlich geneckt. Nur diejenigen, die bei der Szene anwesend
gewesen waren, sagten kein Wort dazu, und das war das Schlimmste von allem!
Hätte
doch wenigstens Míriel über das zerbrochene Geschirr geklagt! Aber sie schien
es gar nicht zu bemerken und servierte seelenruhig das Mittagsmahl.
Mit
hängenden Schultern schlurfte ich zu meinem Platz an der Tafel und vermied
dabei peinlichst jede Art von Blickkontakt. Ich stellte fest, daß ich überhaupt
keinen Hunger mehr hatte. Und dann fiel mir ein, daß ich schon vorher nicht
hungrig gewesen war. Und danach endlich fielen mir die besorgten Mienen auf,
die Tirgams und Míriels und die edlen Gesichter der Erstgeborenen verdüsterten.
Die
anderen bemerkten dies ebenfalls und so wurde es ein sehr schweigsames
Mittagsmahl. Ich fragte mich, welche Nachricht die Elben überbracht hatten. Daß
sie der Grund für diese Betroffenheit war, schien mir offensichtlich. Unruhig
wartete ich darauf, daß jemand nachfragen würde, denn ich selbst getraute mich
jetzt noch viel weniger als vor meinem peinlichen Auftritt. Doch keiner erhob das
Wort. Ob sie ahnten, worum es sich dabei handelte? Oder gab es eine
Hausordnung, die es verbot, vor den Kindern von unangenehmen Dingen zu
sprechen? Ich dachte an den Abend meiner Ankunft in der Siedlung zurück. Ja,
das war möglich. Doch wenn dem so war, so schloß dieses Verbot mich ebenfalls
ein.
Ich
seufzte deprimiert. Bei der herrschenden Stille klang es überlaut. Hätte ich ja
noch Hunger verspürt, jetzt wäre er mir endgültig vergangen; da war ich sicher.
Lustlos stocherte ich in dem Gemüseeintopf herum.
Ich kam
mir vor wie jemand, der eine Eintrittskarte für den besten Platz eines
großartigen Konzertes gewonnen hat und nichts sehen und nichts hören kann, weil
man ihm die Augen verbunden und die Ohren verstopft hat!
Und dann
geschah etwas Seltsames:
Zum
allersten Mal seit fast zwei Jahren, seit ich Mittelerde betreten hatte, fühlte
ich mich nicht als Mary-Sue! Ich meine... Eine Mary-Sue stand schließlich immer
mittendrin im Geschehen! Nicht wahr? Sie war eine Art Vertraute aller möglichen
Leute. Sie wurde in alle Geheimnisse eingeweiht. Ihr Rat wurde gesucht – und
befolgt!
Aber die
Realität sah leider ganz anders aus. Niemand hielt es für nötig, mir etwas
Wichtiges zu erzählen. Niemand vertraute mir irgendwelche Geheimnisse an,
klärte mich über Dinge auf, die ich seiner Meinung nach nicht zu wissen
brauchte und vor allem: Niemand kam auf den irrwitzigen Gedanken, mich nach
meinem Rat zu befragen!
Nun gut.
Würde ich eben selbst dahinter kommen müssen, was hier gerade vor sich ging!
Zunächst
aber bekam ich überhaupt nichts davon mit, weil die ’Neth mir nach dem Essen
eine Mistgabel in die Hand drückte und ich bis zum Einbruch der Dunkelheit
damit beschäftig war, den Stall auszumisten. Dabei hatte ich noch Glück, daß
einzig die Pferde sich zu dieser Jahreszeit darinnen aufhielten. So war es
wenigstens nicht die ganze Halle, der ich meine Aufmerksamkeit widmen mußte.
Irgendwann
am Nachmittag kamen sechs Männer herein, sattelten ihre Tiere und ritten fort.
Natürlich ohne mir zu sagen, wohin.
Mein
Brasfaloth stand alleine in seiner Box und wieherte mich herausfordernd an. Er
wußte ebensowenig wie ich, was dies zu bedeuten hatte.
~*~