„Ich,
äh...“ Ich lief zunächst einmal knallrot an, wie ich ganz deutlich an der
aufsteigenden Hitze in meinem Gesicht spüren konnte. Natürlich war nichts
Ungewöhnliches daran, wenn Galvorn von Lindor als seinem Vater sprach – er
konnte immerhin nicht wissen, inwieweit mich
dies betreffen konnte...
Zu meinem
Entsetzen schien aber jeder im Raum – Liriel auf dem Balkon mit inbegriffen –
seine Worte eben genau so aufzufassen. Galvorn ausgeschlossen, der mich
unverändert nüchtern ansah und die Heiterkeit der übrigen überhaupt nicht
realisierte.
„Ich war
bei den Waldläufern“, antwortete ich schnell und mit nervös piepsiger Stimme.
„Bei Tirgam“, fügte ich rasch hinzu, als Galvorn keinen recht befriedigten
Eindruck machte. Und „In der Siedlung am Mitheithel“, schob ich noch hastig
hinterher, bevor mir die Stimme völlig versagte.
Aiwendil
trällerte aufgeregt auf Galvorn ein. >Das hab ich doch versucht, dir zu
erklären, du dummer Elb!<
Galvorn
hob beleidigt den Kopf in den Nacken. „Deine Beschreibung paßte auf beinahe
alle Orte Mittelerdes!“ stritt er mit dem Vogel.
Der
kleine Piepmatz plusterte sich entrüstet auf.
Ich
starrte ihn erschrocken an. Das war einfach unmöglich! Es konnte nicht sein,
daß ich ihn auf einmal verstand! Doch Aiwendil berichtete gerade ausführlich von
seinen Bemühungen, zurück ins Waldelbenreich zu finden und Galvorn aufzutreiben
– da ich doch so verzweifelt seine Anwesenheit gewünscht hatte! Aber der
begriffsstutzige Elb war nur schwer von der Dringlichkeit der Situation zu
überzeugen gewesen!
Verängstigt
rutschte ich zur anderen Seite des breiten Bettes und krabbelte mit zitternden
Knien herunter.
Meine
Augen suchten den Blick Lindors. >Ich kann ihn verstehen!< formten meine
Lippen. Der Bruchtalelb nickte beruhigend. >Ich weiß...<
„Ihr
kommt zu spät zum Frühstück!“
Meine
Erleichterung machte sich in einem hysterischen Lachen Luft.
Bilbo war
endlich gekommen!
„Natürlich
haben die Herren Elben – und die Dame Liriel – die Zeit übersehen. Hätte ich
wissen müssen. Diese Herrschaften wissen die Vorteile eines opulenten Mahles
nicht zu schätzen. Dabei duftet es bereits seit einer Weile ganz vorzüglich
nach frischem Brot. Und nach einer besonders feinen Kräuterteemischung, will
mir scheinen. Wäre eine Schande, ihn erkalten zu lassen. Ich habe dem Koch
außerdem ans Herz gelegt, eine Platte des herzhaften Schinkens aufzulegen, den
du sehr magst, Elli, und für ein Glas frische Ziegenmilch ist ebenfalls
gesorgt.“
„Ich hab
einen Hunger wie ein... wie ein Hobbit!“ Lachend begrüßte ich Bilbo, der gleich
meine Hand ergriff, um mich Richtung Speisesaal zu führen.
„Endlich
ist hier wieder jemand, der einen ordentlichen Appetit mitbringt“, lobte er
mich dabei. „Weißt du, es macht nicht wirklich Spaß, mit diesem enthaltsamen
Elbenvolk zu speisen. Besonders die Damen sind einzig auf ihre schmalen Hüften
bedacht. Ich verstehe überhaupt nicht, was an einem dürren Leib
Erstrebenswertes ist. Ein fesches, wohlgenährtes Hobbitmädel ist da doch etwas
ganz anderes!“
Der gute
Bilbo wertete mein Glucksen als Zustimmung und schwärmte mir in bunten Farben
von den Honigkeksen vor, die er uns zum Nachmittagstee backen wollte. „Ein
altes Rezept meiner Großmutter! Ich habe dem Koch vor einiger Zeit aufgetragen,
mir die entsprechenden Zutaten zu besorgen und gestern Abend ließ er mir
ausrichten, daß er nun alles beisammen habe. Hätte gar nicht besser passen
können. Wollen wir den Tee heute draußen in den Gärten einnehmen? Du mußt mir
unbedingt erzählen, was du alles erlebt hast!“
„Damit
willst du bis zum Nachmittagtee warten?“
Wir
hatten die anderen hinter uns gelassen und ich war nach all den Peinlichkeiten
ehrlich erleichtert, mich mit jemandem ungezwungen unterhalten zu können.
„Du
könntest beim Frühstück damit beginnen und mir beim Backen zur Hand gehen. In
18 Monaten wirst du doch mehr erlebt haben, als man beim Tee erzählen kann!“ Er
zwinkerte mir gut gelaunt von unten herauf zu. „Ich möchte eine wirklich
ausführliche Geschichte. Kurze Berichte sind etwas für Orks und Trolle, deren
Verstand keine längeren Beschreibungen fassen kann.“
Klang
einleuchtend. Auch wenn mir ein wenig mulmig bei dem Gedanken wurde, meine
stinklangweilige Reise in blumige Worte fassen zu müssen...
Im
Speisesaal angekommen, organisierte mein eifriger Begleiter sogleich die Tischordnung
neu, um es allen zuvor in meinem Schlafzimmer Vereinten zu ermöglichen,
beisammen zu sitzen. Ich stand mit offenem Mund am Rand und staunte nur, wie
bereitwillig sich all die Elben von dem kleinen Mann herumkommandieren ließen.
Sie lächelten, scherzten und räumten mit einem großzügigen Nicken in meine
Richtung ihren Platz.
Inzwischen
hatten sich meine Freunde im Saal eingefunden und die beiden Düsterwaldelben
wunderten sich genau wie ich über Bilbos Autorität – Lindor hingegen
schmunzelte nur wissend und Liriel hielt den Vorfall nicht einmal dessen wert,
sondern ließ sich sogleich auf den eben frei gewordenen, von ihr erkorenen
Stuhl nieder.
Noch
immer leicht irritiert schickte ich mich dazu an, mich neben sie zu setzen, sah
mein Vorhaben aber vereitelt, denn just in diesem Moment bewegte sich jeder der
Wartenden auf einen Sitzplatz zu und alle anderen durchkreuzten dabei meinen
Weg zu ihr. Also blieb ich wo ich war und wählte der Einfachheit halber den
Stuhl gleich neben Bilbo, dessen Platz durch den bekannten Kissenstapel klar
definiert war.
Zu meiner
anderen Seite fand sich Galvorn ein – nach kurzem freundschaftlichen Geplänkel
mit Celthor, der sich nicht entscheiden konnte, ob er rechts oder links vorbei
wollte und sich rein zufällig erst für eine Seite entscheiden konnte, nachdem
ich mich gesetzt hatte.
Galvorn
betrachtete mich unsicher. Forschend. Er war noch immer nicht zufrieden mit dem
Untersuchungsergebnis meiner plötzlichen Schwindelattacke. So schien es mir.
„Es geht
mir gut, ehrlich! Ich hab nur Bauchweh vor Hunger.“ Um den Wahrheitsgehalt
meiner Worte zu beweisen, griff ich sogleich eine Scheibe Brot aus der Schale
und biß eine ordentliche Ecke davon ab, bevor ich mich überhaupt nach Butter
oder dem erwähnten leckeren Schinken umsah. „Mir wird dann schon mal etwas
übel“, schmatzte ich mit vollem Mund und zog, die Harmlosigkeit
unterstreichend, beide Schultern hoch.
Galvorn
schwieg.
Jetzt
wurde meine Aufmerksamkeit von Bilbo gefesselt, der sich auf seinen Kissen
zurechtsetzte und nach unterschiedlichen Platten und Schalen verlangte, die er
ohne Hilfe nicht erreichen konnte.
„Ähm...
hast du was gesagt?“ Tatsächlich war ich absolut sicher, daß Galvorn nicht
einmal gepiepst hatte. Das machte mich nervös. Auch wenn ich nicht sagen konnte,
weshalb.
Er
blickte von seinem Teller auf und schüttelte leicht den Kopf.
„Ich habe
nichts gesagt.“
Und dann
verstummte er wieder.
„Gibt es
etwas Neues aus dem Waldelbenreich?“ wollte ich nach einer Weile wissen. Dieses
Schweigen machte mich ganz kirre und so überhörte ich geflissentlich Bilbos
Aufforderung zum Erzählen.
„Du
siehst so ernst aus. Ist etwas passiert?“ bohrte ich in der Hoffnung, etwas
über Gollums Flucht zu erfahren.
Und als
nicht sogleich eine Antwort kam, setzte ich gar noch eines obendrauf:
„Blockiert diese widerliche Kreatur noch immer unseren Lieblingsbaum?“ Ich
lachte blöd.
Galvorn
und Celthor warfen sich schnell einen Blick zu.
>Nicht<,
formten Celthors Lippen und Galvorn ignorierte meine Frage.
„Berigond
und Beril sind von ihrem Besuch in Lórien zurückgekehrt“, bemerkte er statt
dessen und Celthor atmete erleichtert.
Was ging
hier vor?
Grummelnd
ergriff ich meine Tasse und schlürfte den noch viel zu heißen Tee. Dabei dachte
ich über das seltsame Gebaren der beiden Elben nach.
Celthor
war im allgemeinen nicht sehr gesprächig, doch auch mein heiterer Kinderelb
schwieg beharrlich vor sich hin. Galt das mir? Wieso benahm er sich plötzlich
so seltsam? An meinen Fragen konnte es doch nicht liegen, denn die hatte ich
erst später gestellt.
Die
beiden verheimlichten mir Gollums Flucht. Natürlich. Wenigstens war ich nun
über ihre Kenntnis darüber im Bilde. Zwar konnte ich mir nicht erklären,
weshalb sie ein Geheimnis daraus machten...
Eine
schwache Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht durften sie gar nicht darüber reden? Das wäre die Lösung
schlechthin für meine aktuell größte Sorge – und vermutlich viel zu schön und
leicht um wahr zu sein.
Aber
weshalb sein abweisendes Verhalten?
Hatte ich
ihn etwa durch irgend etwas beleidigt? Ich war mir keiner Schuld bewußt. Gut,
vielleicht hätte ich Aiwendil über den Mund – äh... Schnabel – fahren sollen,
als er ihn einen >blöden Elben< genannt hatte...
Wie aufs
Stichwort flatterte der Piepmatz herbei und bettelte fiepsend um ein paar
Körner von meinem Teller. Ich gab sie ihm gern.
Aber
sonst? Unauffällig verdrehte ich meine Augen zu Galvorn hinüber.
„Nun,
also erzähl schon. Wie war das, als du im vorletzten Frühjahr mit Radagast von
hier aufgebrochen bist?“ drängte Bilbo.
„Hm...“,
sammelte ich mich und zog den Augenblick ein wenig hinaus. Kam möglicherweise
doch noch eine Bemerkung von den Elben? Nein. Da war wohl nichts zu machen. Und
weil beide den ersten Teil meiner „In 18 Monaten durch ganz
Mittelerde“-Geschichte bereits kannten, zeigten sie auch keinerlei Interesse an
meiner Erzählung – Im Gegensatz zu Bilbo, der jetzt unruhig auf seinen Kissen
herum zu rutschen begann.
Also
seufzte ich schicksalergeben, sortierte nochmals meine Gedanken und...
versuchte soviel Spannung wie möglich in die Beschreibung meiner Erlebnisse zu
legen. Irgendwann kurz vor meiner Ankunft in Rhosgobel hatte ich begonnen,
Geschmack an der Sache zu finden und die Worte kamen immer flüssiger und
dramaturgisch geschickter über meine Lippen.
Am Ende
des Frühstücks war ich bei meiner Ankunft im Waldelbenreich angelangt, hatte
meine verunglückten Versuche mit dem Badewasser gezielt umgangen und meinen
beinahe-Selbstmord durch Giftpilze ausgelassen. Wahrheitsgemäß berichtete ich aber,
wie Aiwendil mir die besonders schmackhaften Gewächse gezeigt hatte. Ich mußte
ihr Aussehen beschreiben und erhielt von einem begeisterten Bilbo nun die
passenden Namen dazu.
„Ein ganz
besonderes Fleckchen muß dieses Rhosgobel sein. Würde mein Alter mich nicht
allmählich einholen, ich würde hinreisen und es mir selbst besehen!“ Seine
Augen glänzten und ein Schimmer von Wehmut breitete sich über sein Gesicht.
„Nur um
ein paar seltene Pilzsorten zu sehen?“ staunte ich.
„Und sie
zuzubereiten. Und zu essen. Versteht sich.“ Bilbo zwinkerte heiter.
Es war
ein wundervoller Tag. Die Sonne schien angenehm warm und die ganze Natur blühte
und grünte. Bilbo war gleich vom Speisesaal aus losgezogen ein zweites
Frühstück in der Küche zu organisieren, zu dem er, Liriel und ich uns auf der
Terrasse vor des Hobbits Zimmer einfanden. Eigentlich hatte ich gehofft, die
drei Elben würden ebenfalls erscheinen. Aber sie ließen sich durch Liriel
entschuldigen.
Wir
verbrachten den Rest des Vormittags mit erzählen. Das heißt, ich erzählte.
Liriel
hätte sich weit mehr für meine jüngeren Abenteuer erwärmt, doch Bilbo bestand
auf der richtigen Reihenfolge der Geschichte. So mußte die Elbin sich gedulden,
bis ich ganz von selbst zu dem Teil gelangte, der sie interessierte. Und als
wir zum Nachmittagstee im gleichen Grüppchen am selben Ort beisammensaßen, kam
ich endlich zum Abschluß dieser so unangenehmen Aufgabe.
Erwartungsvoll
sah ich der Reaktion der beiden entgegen. Sie hatten mich oft wißbegierig mit
Fragen unterbrochen und es nicht an Aufmerksamkeit mangeln lassen.
Zu meiner
Überraschung erhielt ich auch jetzt keine gelangweilten Kommentare, sondern im
Gegenteil anerkennende Worte. Vielleicht war man in Mittelerde einfach noch
nicht so actionsüchtig, wie... --
Abwesend
betrachtete ich ein paar helle Wölkchen am azurblauen Himmel.
Nein.
Nicht mehr zu Hause. Erschrocken stellte ich fest, daß ich über meine alte Welt
nicht mehr als mein Zuhause dachte. Und in der Sekunde, da ich dies bemerkte,
packte mich paradoxerweise heftiges Heimweh.
>Schreib deiner Mutter eine Nachricht<,
hatte Radagast mich ermahnt.
Eine
Nachricht...
An diesem
Abend mied ich den großen Saal, mit seinen lieblichen Gesängen und der
elbischen Poesie. Ich ging auf mein Zimmer, nicht ohne meine Freunde wissen zu
lassen, daß ich wünschte, allein zu sein.
Ich
wußte, es machte keinen Sinn mehr. Wußte, es war zu spät. Viel zu spät. Dennoch
spürte ich ein inneres Verlangen danach, meinen Fehler von damals gutzumachen –
gleichgültig, wie zwecklos es war.
Und so
schrieb ich einen mehrere Seiten langen Brief an meine Mutter, den sie niemals
lesen würde.
~*~