„Nein.“
Lindor hingegen war ganz gebannt von dem herrlichen Ausblick. Wie er so dastand
hatte ich das Gefühl, er könnte jeden einzelnen Grashalm, jedes Blatt an
Sträuchern, die ich nur als buschiges Etwas zu identifizieren vermochte, erkennen
und meilenweit dem Flug der Vögel folgen.
Er hatte
es nicht eilig mit seinen Betrachtungen. Unruhig trat ich auf den Füßen hin und
her. Rieb die bloßen Zehen aneinander, um die Steinchen in den Lücken zu
entfernen und als das nicht funktionierte, setzte ich mich hin und pulte sie
mit den Fingern heraus.
„Du
wolltest mit mir reden“, erinnerte ich.
„Du
hattest >eine Menge< Fragen“, konterte er.
„Ja, und
meine erste hast du einfach ignoriert!“
Lindor
wandte sich lächelnd um. „Du hättest Schuhe anziehen sollen“, bemerkte er beim
Anblick meiner Bestrebungen, den krümeligen Sand mit Spucke zu entfernen.
„Sehr
witzig!“
„Hier
nimm!“ Er reichte mir ein Taschentuch und setzte sich zu mir.
„In
früheren Zeitaltern haben die Elben die Menschen gelehrt, mit den Tieren zu
sprechen. Und die Menschen hörten ihnen zu, bevor die Hektik des Lebens und
ihre Überheblichkeit anderen Geschöpfen gegenüber, sie taub machten für die
Weisheiten der Natur. So haben sie weggehört von dem, was sie nicht mehr zu
schätzen wußten. Du jedoch hast gelernt, hinzuhören.“
„Aber
niemand hat mich darin unterrichtet...“ Ich war verwirrt.
„Wirklich?“
Lindor wehrte dezent ab, als ich ihm das beschmutzte Tuch zurückgeben wollte.
„Seit du in Mittelerde bist, hast du unentwegt versucht, dich mit unserer
Sprache vertraut zu machen. Du hast hingehört, darüber nachgedacht, warst
bestrebt, ihren Klang und Sinn zu erfassen.“
„Aber nur
eure Sprache und nicht...“
„Nicht
bewußt. Und doch war Aiwendil oft um dich und du hast viel Zeit mit dem munteren
Kerl verbracht.“
Bestätigend
tschilpte der bunte Vogel auf meiner Schulter. Ein Laut der, das wußte ich
sicher, kein Wort formte, sondern einzig dazu gedacht war, der Rede des Elben
eifrig zuzustimmen.
Nachdenklich
knüllte ich das Taschentuch in meinen Händen. Wann hatte ich begonnen, ihn zu
verstehen? Ich erinnerte mich, wie ich mit dem Vogel vertraut geworden war,
seine Gesten und Hinweise immer besser zu deuten gewußt hatte. Das war mir ganz
selbstverständlich erschienen. In meiner alten Welt hatte ich früher ein
Kaninchen besessen, das ich nach einigen Jahren so gut gekannt hatte, daß ich
seine Reaktionen voraussagen konnte und genau wußte, was es mir zu sagen
wünschte. Ob ich seine Lautsprache ebenso verstanden hätte, hätte es öfter
davon Gebrauch gemacht?
„Elli...“
Etwas in Lindors Tonfall ließ mich meine Überlegungen abrupt beenden und
gebannt zu ihm aufblicken. „Es gibt da etwas, das ich dir sagen möchte, bevor
du es von jemand anderem erfährst. Und ich hielt es für geraten, dich dazu hierher
zu bringen, wo ich die Umgebung weit überblicken und sehen kann, wenn etwas
sich uns nähert, anstatt es dir in Bruchtal mitzuteilen, wo ich nicht wußte, ob
deine Reaktion mehr verraten würde, als deine Liebe zu meinem Sohn.“
„Galvorn?
Was ist mit ihm?“ Ängstlich rückte ich näher zu Lindor heran und ergriff seinen
Arm. „Ist ihm etwas zugestoßen?“
Blöde
Frage. Was hatte ihm schon zustoßen sollen in der kurzen Zeit, seit ich ihn
verlassen hatte und bevor Lindor zum Teich gekommen war. Liebe macht manchmal
so dumm...
Erst
jetzt fiel mir Lindors Wortwahl auf. „Etwas?“ stutzte ich.
Lindor
blickte sich um, als säße dieses Etwas hinter uns in einem unsichtbaren Busch.
Oder war es selbst unsichtbar? Ich schauderte.
„Du
meinst...?“
„Sie sind
unterwegs“, bejahte er. „Ich dachte, du wüßtest das.“
„Äh, ja.
Eigentlich schon.“ Aber uneigentlich hatte ich mich mit diesem Gedanken noch
gar nicht auseinandergesetzt. Hatte ich nicht gehofft, in Bruchtal in
Sicherheit zu sein?!
„Laß uns
zurückreiten, Lindor, ja?“ flehte ich und erhob mich halb. Der Elb zog mich
jedoch bestimmt zurück auf die Erde.
„Nicht
bevor wir geredet haben.“
„Aber wir
haben geredet. – Laß uns gehen!“
Jetzt
lachte Lindor humorlos und sein Gesicht wurde noch ernster.
„Ich sehe
du weißt tatsächlich um die Fährnis. Nun, das erleichtert mir meine Aufgabe
nicht.“
Seine
Aufgabe? Ach ja, er hatte mir etwas sagen wollen. Etwas, das Galvorn betraf.
Aber was hatte das mit dem Erscheinen der Nazgûl zu tun? Verständnislos sah ich
ihn an. Aus einem unergründlichen inneren Gefühl heraus, begann ich mir Sorge
zu machen, die in kürzester Zeit in panische Angst umschlug. Ich bemerkte erst,
daß ich die Luft angehalten hatte, als meine Lungen heftig dagegen
protestierten.
„Wir
wissen nicht, oder nur unklar, wonach die Neun suchen.“ – Lindor sprach die
Zahl aus, als berge sie weniger Gefahr, als der Name. – „Doch ist es uns genug
zu wissen, daß sie das Schwarze Land verlassen haben. Die Nachforschungen, die
sie betreiben sind – nun, sagen wir, sie geben zu Beunruhigung Anlaß. Aus
Gründen, die ich dir nicht im einzelnen zu erläutern brauche, hat Herr Elrond
entschieden, die wenigen Krieger Bruchtals, die offen gegen sie zu reiten
vermögen zu entsenden.“
„Zum
Beispiel Glorfindel“, nickte ich.
„Ebenso
mich.“ Lindor ergriff meine Hand und drückte sie fest. „Und Galvorn... Galvorn
wird mich begleiten.“
„Gal-“
Sein Name blieb mir im Hals stecken. Nein! Nein, das durfte nicht sein!
„Aber... aber diese Viecher sind gefährlich!“ kreischte ich „Außerdem kann er nicht.
Es geht nicht. Galvorn kann doch kein B...“ Ich biß mir auf die Zunge. Kein
Blut sehen...
Oh nein!
Kraftlos sank ich in mich zusammen. Das sind Geister, Elli. Geister! Die sind
nicht aus Fleisch und Blut. Und man bekämpft sie auch nicht mit den üblichen
Waffen.
Ja, womit
bekämpfte man eigentlich einen Nazgûl?
Ich hatte
mir so fest auf die Zunge gebissen, daß sie anschwoll. Vorsichtig betastete ich
sie mit der Fingerspitze, um das Ausmaß meiner Selbstverstümmelung zu
begutachten.
„Du
kannst dich nachher von Galvorn verarzten lassen“, bemerkte Lindor trocken.
„Sehr
witzig...“ In Gedanken malte ich mir aus, wie mein Geschmacksorgan auf
erschreckende Weise anschwoll und meine Atemwege versperrte – und wie ich
halbtot zu meinem Geliebten gebracht wurde, damit dieser mir ein zweites Mal
das Leben retten konnte... Ich stellte fest, daß dies noch weniger meiner
Vorstellung von Romantik entsprach, als unsere erste Begegnung.
„Du wirst
also auch fortreiten?“ lispelte ich, mit noch immer mit der Untersuchung
beschäftigtem Finger im Mund und bemühte mich, die Frage möglichst gleichgültig
klingen zu lassen, um meine Fassung nicht gleich wieder zu verlieren.
„Das
werde ich.“
Jetzt
bröckelte meine Beherrschung trotzdem dahin.
„Aber...
ihr werdet doch zurückkommen, nicht wahr?“
Lindor
senkte bestätigend den Kopf. Es wirkte nicht sehr überzeugend auf mich. Bevor
ich eine diesbezügliche Bemerkung machen konnte, erhob sich der Elb und zog
mich ebenfalls auf die Beine.
„Laß uns
zurückreiten.“
„Wann
werdet ihr aufbrechen?“
„Das ist
noch nicht entschieden. Elrond erwartet Nachrichten aus Lórien. Vorher wird
wohl auch nichts darüber beschlossen.“
„Was für
Nachrichten?“ Ich folgte Lindor den Hügel hinab und die Pferde trotteten Seite
an Seite hinter uns her.
„Nachrichten.“
Oh Mann!
Ich schrie innerlich auf, während ich äußerlich versuchte, die Ruhe zu
bewahren. Verstanden sich alle Mittelerdebewohner auf die Kunst der
Einsilbigkeit und Informationsverweigerung?
„Elli, bitte.
Ich habe dir bereits mehr gesagt, als ich durfte, und dies nur, weil du mehr
weißt, als du sagen darfst. Bitte
behalte dieses Wissen für dich – wie das andere...“
Paff!
Klang da Resignation aus seinen Worten? Natürlich! Hatte ich etwa geglaubt, Lindor
würde es leicht fallen, mich nicht nach meiner Kenntnis über die Zukunft zu
befragen?! Wie schwer mußte ihm das mir gegebene Versprechen wiegen! Was wog
meine kindische Neugierde im Vergleich dazu?!
In mich
versunken fiel ich einige Schritte zurück. Was hatte Tolkien über die Krieger
geschrieben, die ausgezogen waren, den Nazgûl zu begegnen? Waren sie alle heil
wieder nach Bruchtal gekommen? Waren sie überhaupt zurückgekehrt? Ein kleiner
Hoffnungsschimmer erhellte die Finsternis, die meine Gedanken verdüsterte.
Galvorn mußte zurückkehren, oder die Mission zumindest überleben, damit
Radagast ihn treffen und mit ihm wegen meiner Überfahrt nach Mittelerde
sprechen konnte. Aber was war mit Lindor? Kein Wort erzählte der große Meister
über ihn in seinem wundervollen Werk. War er einer jener Nebenfiguren, die
„entbehrlich“ waren?
Wir waren
den Hang hinabgeklettert und bevor wir aufsaßen, bückte Lindor sich, um ein
Pflänzchen zu pflücken, das mir nur allzu vertraut vorkam. Er reichte es mir
mit den Worten „Leg dies auf die Schwellung“ und konnte nicht umhin, bei meinem
leidenden Gesichtsausdruck wenig mitleidig zu lachen.
Ich
drehte das grünblättrige Ding ein paarmal herum, atmete tief durch und steckte
es in den Mund. Dieses widerliche Zeug schien wohl für so ziemlich alles gut zu
sein. Kein Wunder, daß es dem zukünftigen König von Gondor einmal zu so hohem
Ansehen verhelfen würde. Nur am Geschmack sollte eindeutig etwas geändert
werden. Die Lehre von der bitteren Medizin mußte doch nicht so streng genommen werden...
Wir
ritten schweigend zurück. Der Vormittag war vergangen und auch der Nachmittag
war nicht mehr ganz jung. Die Sonne stand hell und klar am herbstlichen Himmel.
Am Bruinen verweilten wir kurz, um die Pferde zu tränken, dann überquerten wir
die Furt. Mir war, als stünde das Wasser höher als gewöhnlich, aber ich konnte
mich irren. Was wußte ich schon davon. Ich kam nur selten hierher.
Genaugenommen hatte ich den Fluß zuvor ganze dreimal zu Gesicht bekommen.
Forschend blickte ich mich um, als könnte ich bereits jetzt die Spuren
entdecken, die erst in gut vier Wochen in den feuchten Boden des Ufers und die
Geschichte Mittelerdes gegraben wurden.
Heute
wußte ich freilich noch nicht, wie lange es bis zu jenem bedeutsamen Geschehen
dauern würde. Unsinnig waren meine suchenden Blicke dennoch. Es hatte auch
keinen Zweck, in die Stille zu lauschen. Was hoffte ich zu hören? Das wütende
Schnauben bösartiger Pferde? Das Wehen unsichtbarer Mäntel? Ach nein, das ging
eh nicht. Die Kleidung der Ringgeister war doch überhaupt nicht unsichtbar.
Aber vielleicht das helle Klingen der Glöckchen an Asfaloths Zaumzeug?
Blödsinn!
Bildete
ich mir das ein oder bimmelten da tatsächlich kleine Schellen?
Mann
mann... reiß dich zusammen, Elli! Jetzt geht deine Phantasie aber wirklich mit
dir durch!
Das
Klingeln kam näher, so sehr ich auch bestrebt war, meine Hirngespinste in ihre
Schranken zu weisen. Lindor zügelte seine Stute und blickte in die Richtung,
aus der ich das Geräusch zu vernehmen glaubte. Gaukelte meine Einbildungskraft
mir also doch nichts vor?
„Sie
kommen früher als erwartet“, murmelte der Elb zu sich selbst.
„Wer? Wer
kommt da?“
Neugierig
reckte ich mich im Sattel, vermochte aber zwischen Büschen und Bäumen am
Ostufer nichts zu erkennen. Dafür hörte ich nun den dumpfen Klang
unbeschlagener Hufe auf weichem Boden. Da! Da schnaubte ein Pferd. Sehen konnte
ich noch immer nichts.
„Das wird
Herrn Elrond freuen. Gerade jetzt...“ Er sprach den Satz nicht zuende.
Endlich
waren die Ankommenden dicht genug heran und tauchten zwischen den
nächstliegenden Bäumen auf. Zuerst sah ich die Pferde. Die Reiter waren Elben.
Das war nicht überraschend. Ich kniff die Augen zusammen, um ihre Gesichter zu
erkennen. Hoffnungslos. Aber die Uniformen hatte ich schon einmal gesehen. Es
waren die der Waldelben Lothlóriens. Zumindest fünf von ihnen trugen sie. Der
sechste Reiter war in ein schlichtes braunes Gewand gekleidet und wurde von den
anderen schützend umringt. Er war etwas kleiner und zierlicher als sie und trug
als einziger keine Waffen. Erst als sie vor uns hielten bemerkte ich, daß es
eine Frau war.
Eine Frau
von solch überirdischer Schönheit, wie ich sie selbst unter den Elben bisher
nicht gesehen hatte. Ich starrte sie offen an. Die Augen so weit aufgerissen, wie
selten jemals. Ich konnte nicht anders. Selbst als mir bewußt wurde, wie
übermäßig dämlich ich mich – sogar für meine Verhältnisse - benahm, konnte ich
den Blick nicht von ihr abwenden oder wenigstens den Mund schließen. Konnte ein
Mensch - pardon, Elb - so wunderschön sein?
Die Dame
schien, sehr zu meiner Beruhigung, keinen Anstoß an meiner plumpen Bewunderung
zu nehmen. Sie lächelte mich freundlich an. Hoheitsvoll. Und doch in keiner
Weise herablassend. Ihr Blick hatte etwas von... verzeiht, ich weiß, wie blöd
das jetzt klingt, und dennoch finde ich keine passenderen Worte: von kindlicher
Unschuld. Sie war sich eindeutig ihrer Schönheit bewußt, doch ohne billige
Eitelkeit. Stolz, aber ohne falschen Hochmut. Würdevoll, ohne Arroganz.
Respektgebietend, ohne Anmaßung.
Als ich
mich endlich wieder regen konnte, verneigte ich mich tief vor ihr. Diese
ehrende Geste kam mir ganz selbstverständlich und Lindor ging sogar noch
weiter, indem er vom Pferd stieg und eine regelrecht höfische Verbeugung
zelebrierte.
„Mae
govannen!“ grüßte er mit seiner melodischen Stimme. „Ich hoffe, Ihr hattet eine
angenehme Reise, meine Herrin.“
Arwen!
hätte ich beinahe geschrieen. Zum Glück befand ich mich in diesem Moment – dem
Beispiel des Elben folgend - schon halb auf dem Weg vom Pferderücken zur Erde,
hing gerade mit einem Bein über der Kuppe und lag mit meinem Bauch so auf, daß
mir die Atemluft dazu fehlte. Ein halb ersticktes „Ugh!“ war alles, was ich
herausbrachte. Das klang in die elbische Stille und Grazie hinein zwar noch
viel unkultivierter als an jedem anderen Ort, bewahrte mich aber wenigstens vor
einer neuen Unachtsamkeit.
„Danke,
Lindor. So angenehm wie eine Reise zu Pferd durch unwegsames Gelände eben sein
kann, da meine Begleiter es für geraten hielten, den Paß über den Caradhras zu
wählen, statt des längeren, aber weit bequemeren durch das Land der
Pferdeherren.“
„Wir
hielten ihn für weniger gefährlich...“, hob einer der Begleiter vorsichtig zu
seiner Verteidigung an. Arwen unterbrach ihn mit einer beruhigenden
Handbewegung und einem leisen, sehr sympathischen Lachen.
„Es
sollte kein Vorwurf sein, lieber Rúmil. Immerhin. Wir sind ohne Aufenthalt
durchgekommen und jetzt glücklich hier. Das ist alles, was zählt. –
Sagt,
Lindor, wo ist mein Vater? In seiner Arbeitsstube, am Schreibtisch, tief in
seine Bücher versunken?“
„Wahrscheinlich“,
lächelte Lindor und trat mit einer galanten Bewegung zur Seite, um ihr den Weg
freizugeben.
Doch
Arwen machte keine Anstallten, ihren Ritt fortzusetzen. Sie betrachtete mich wohlwollend.
„Willst du mir nicht wenigstens deine reizende Begleiterin vorstellen?“
Reizend?
Laßt mich
mal eben zusammenfassen: Ich hatte sie ziemlich unverschämt angestarrt, war mit
obszönem Grunzen vom Pferd gerutscht und hatte es vor lauter Verlegenheit
fertig gebracht, meine Bindfäden aufs Neue zu verknoten.
Und sie
nannte mich reizend? Ich blinzelte ein paarmal energisch. Sie machte sich wohl
über mich lustig? Doch als ich sie dann ansah, ruhte ihr Blick unverändert
freundlich und ein klein wenig neugierig auf mir.
Ich
runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Wieso sollte Arwen, die Tochter
Elronds, des Herrschers von Bruchtal, sich für eine Menschenfrau interessieren?
Weshalb sollte sie so unverdient nachsichtig zu ihr sein? Stand ich nicht
eigentlich so tief unter ihr, daß ich ihr völlig gleichgültig sein sollte?
Da
stimmte doch etwas nicht! Schlug das Mary-Sue-Schicksal jetzt endgültig zu? Ich
quietschte unglücklich vor mich hin. Irgendwann hatte es ja so kommen müssen...
Und wie reagierte
Lindor auf diese eindeutig fehlerhafte Charakterisierung meiner Person?
>Oh...
die ist nicht reizend!< Oder? Denkste!
Mit
steinerner Miene, so, als müßte er sich selbst verbieten, die gerade oben
geschriebenen Worte auszusprechen, stellte er mich schlicht und einfach mit
meinem Namen vor. Meinem Vornamen wohlgemerkt, denn so etwas wie Nachnamen gab
es in Mittelerde nicht. Man fügte höchstens ein „Sohn oder Tochter des...“
hinzu, oder den Ort der Herkunft, möglicherweise auch nur das Land. Lindor
unterließ beides. Die Namen meiner Eltern kannte er nicht – sie hätten für
elbische Ohren auch fremdartig geklungen – und über meine Heimat schwieg er aus
begreiflichen Gründen.
Einen
Moment lang hatte ich das Gefühl, er wollte noch etwas hinzufügen. Doch dann
beließ er es bei dem unspektakulären Namen. Er stand ein wenig einsam und
verloren im Raum, und doch klang er schmeichelnd und viel zu schön für mich.
Verlegen
betrachtete ich meine bloßen Zehen, spreizte und reckte sie und hoffte, daß die
Tochter Elronds jetzt endlich weiterreiten würde.
„Mir fiel
Euer Pferd auf“, erklärte sie unerwartet. „Ihr müßt bei unserem Vanya-Fürsten
in hoher Gunst stehen, wenn er Euch erlaubt, Brasfaloth zu reiten.“
„Er hat
ihn mir geschenkt!“ platzte ich stolz heraus und ohrfeigte mich innerlich im
gleichen Augenblick für diese Unbesonnenheit. Da hatte Lindor soeben so
geschickt vermieden, mich für die Herrin Arwen interessanter zu machen, als ich
für jemanden sein durfte, der gerade aus Lórien kam und mit absoluter Sicherheit
von Galadriel Informationen über eine gewisse junge Menschenfrau hatte, die in
innigem Zusammenhang mit dem Sohn des ihr wohlbekannten Herrn Lindor stand –
und ich mußte mit meiner Bedeutung prahlen!
Dieser
Fauxpas fiel mir aber erst auf, als eine perfekt geschwungene Augenbraue
vornehm in die Höhe glitt.
Ich biß
mir auf die Zunge. Genau auf die ohnehin geschundene Stelle. Als Reaktion auf
meine seelische sowie körperliche Qual, begann ich kläglich zu wimmern und war
froh, eines mit dem anderen überspielen zu können.
Lindor
trat neben mich. Forderte mich auf, ihm meine Zunge zu zeigen. Untersuchte sie
mit fachkundiger Miene, eine beruhigende Hand an meiner Wange, ließ eine
geschickte Bemerkung darüber fallen, daß ich mir diese Verletzung bereits früher
am Tag zugezogen hätte und lenkte somit den Verdacht von der aktuellen
Begründung ab.
Den Rest
bekam ich nur undeutlich mit, da ich gedanklich damit beschäftigt war, mich und
meine Dummheit in die entfernteste Ecke Mordors zu verwünschen.
Arwen sprach
eine ehrlich gemeinte Gute Besserung aus und die Hoffnung, sich zu einer
günstigeren Gelegenheit mit mir unterhalten zu können. Ihre Begleiter redeten
überhaupt nicht und dann zogen sie, nach einigen gewechselten Floskeln weiter
Richtung Bruchtal.
Ich stand
mit Lindor allein in der Wildnis. Mein Schwiegerpapa in spe strich mir neckend
mit dem Zeigefinger über die Nase und schüttelte resignierend den Kopf.
„T’schuldigung...“,
nuschelte ich. Meine Augen füllten sich gegen meinen Willen mit Tränen. Zornig
wischte ich sie fort und zog die Nase trotzig hoch. „Es ist mir einfach so
herausgerutscht. Ich wollte das nicht. Ehrlich. Was soll ich denn jetzt
machen?“
„Was du
jetzt machen sollst?“ Keine Ahnung wie Lindor es bewerkstelligte, aber er griff
nur zweimal in den verwurstelten Zaumfaden-Knäuel und schon war er wieder in
Ordnung.
„Naja,
jetzt ahnt sie doch sicher etwas, oder? Ich meine... Sie kommt doch gerade aus
Lórien!“
„Das weißt
du also auch? Ja, und es ist wahrscheinlich, daß sie von Galadriel etwas über
ihre angelegentliche Suche erfahren hat – wenn es das ist, was du befürchtest.“
Lindor
lächelte. Es tat mir gut.
„Aber ich
denke nicht, daß sie ausgerechnet dich mit jener Person in Verbindung bringt.“
„Nicht?
Wieso nicht?“ fragte ich eifrig.
Lindor
zuckte die Achseln. „Hast du eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele
Menschenfrauen es in Mittelerde gibt?“
„Äh...
nein.“
„Oder wie
groß Mittelerde ist?“
„N-nein.“
„Oder wie
häufig wir Gäste in Bruchtal empfangen?“
„Hm...“
„Weißt
du, man nennt Imladris auch das >Letzte heimelige Haus<.“
„Das weiß
ich.“
„Nun?“
„Ich hab
hier aber noch keinen Menschen gesehen!“
„Oh, ach
ja.“ Lindor nickte spöttelnd. „Wo du doch schon so lange hier bist, nicht wahr?“
„Aber...“
„Kein
>Aber<!“ Lindor drehte sich schwungvoll um und saß auf. „Die Herrin Arwen
ist viel zu bodenständig, um an einen solch seltsamen Zufall zu glauben. So
etwas gibt es nur in ganz schlechten Geschichten.“
... oder in
miesen Mary-Sues... Ich mußte mir Gewalt antun, um nicht erneut mit meinem
eigenen Ich zu streiten.
„Warte!
Aber... wieso... wieso nennt sie mich >reizend<? Ich meine...“ Ich bohrte
Brasfaloth meine Fersen in die Weichen, um zu dem Elben aufzuschließen.
„Du
meinst, das bist du gar nicht?“ Er lachte hell. „Stimmt. Aber das kann sie ja
nicht wissen. Sie kennt dich eben noch nicht!“
Diesmal
traf ich ihn mit meinem Ellenbogen hart in die Seite. Lindor lachte noch
amüsierter und zwinkerte mir zu.
„Wieso sollte
sie dich denn abstoßend finden? Zugegeben, du siehst nicht gerade wie eine Dame
aus, mit deinen fleckigen Hosen, der zu weiten Bluse und dem nachlässig
zusammengebundenen Haar.“
Bei
diesen Worten betrachtete er mich einmal vom Kopf bis zu den nackten Füßen.
„Vermutlich
ist dies der Grund, weshalb du ihr auf Anhieb sympathisch warst. Die Herrin mag
Ehrlichkeit und natürliches Gebaren. Sie beherrscht die Kunst, einem anderen
ins Herz zu blicken. Und das...“ Er tilgte jede Ironie aus seiner Stimme, „...
hast du auf dem rechten Fleck.“
„Darüber
hinaus...“, er dehnte die beiden Worte theatralisch in die Länge und gab ihnen
und den folgenden eine bewußt zynische Färbung, „...wollte sie wohl nur höflich
sein.“
~*~