Es war
einer jener seltenen sonnigen Herbsttage...
So in
etwa könnte ich dieses Kapitel beginnen. Aber wir befanden uns in Bruchtal, und
die meisten Tage waren sonnig. Wenn es einmal regnete – eine Notwendigkeit für
die Balance der Natur - dann schenkte selbst der Regen Entspannung, und die
feuchten Wiesen waren eine Wohltat für die Füße.
Zu meiner
großen Freude hatte Bilbo sich heute Nachmittag nicht, wie es ihm in letzter
Zeit zur lieben Gewohnheit geworden war, zum Nachdenken in die Halle des Feuers
zurückgezogen. Es war ihm vielmehr in den Sinn gekommen, sich wieder einmal
seinem Studium der „fremdländischen“ Schrift zu widmen. Und da nuneinmal ich
die einzige war, die ihm unsere lateinischen Lettern beibringen konnte, hatte
ich mich ohne großen Widerstand zu einem Nachmittagsimbiß in den ausgedehnten
Parkanlagen Bruchtals überreden lassen.
Naja,
eigentlich war es nicht wirklich ein „Nachmittags“-Imbiß, sondern vielmehr ein
„Nach- Mittagessens“-Imbiß. Aber das spielte bei einem Hobbit keine wirklich
große Rolle.
Was meine
eigenen Studien betraf, so hatte ich Bilbo gebeten, mich im Westron zu
unterrichten. Bald würden Frodo und seine Gefährten in Bruchtal eintreffen, und
da wollte ich mich zumindest mit ihnen verständigen können.
>Nein
nein, keine Angst<, beruhigte ich meine innere Stimme, die gerade warnend
Laut geben wollte, >Ich werde mich raushalten, versprochen! Radagast wollte
mich auf gar keinen Fall hier haben, und er wird schon gewußt haben,
weshalb.<
Der alte
Zauberer hatte bisher stets gewußt, was er tat, gestand ich mir widerstrebend
ein, und fühlte mich gleich ein bißchen unwohler in meiner Haut.
Während
ich am verabredeten Platz auf Bilbo wartete, der wie üblich für die
Organisation von Tee und Gebäck zuständig war, ließ ich die vergangenen Wochen
vor meinem inneren Auge Revue passieren.
Was für
eine verwirrende Zeit!
Erst mein
peinlicher Auftritt auf dem Kampfplatz, wo ich Galvorn im Eifer, ihn von dem
vermeintlichen Duell mit Glorfindel abzuhalten, meine Liebe eingestanden hatte.
Dann Galvorns Offenbarung der eigenen Gefühle und seine Zurückweisung. Er hatte
erkannt, welche Probleme eine solche Verbindung mit sich brachte.
Vielleicht
hätte ich ihm bereits zu diesem Zeitpunkt ein umfassendes Geständnis ablegen
sollen. Aber nein. Mein dummer Stolz glaubte noch immer daran, sein Herz auch
gegen alle Vernunft gewinnen zu können. Lächerlich! Ja, wäre ich wenigstens von
solch überirdischer Schönheit wie Arwen...
Dann
dieses blöde Mißverständnis wegen Gollums Flucht. Höchste Zeit eigentlich,
endlich Farbe zu bekennen. Aber statt dessen wollte Klein Elli wie immer ihren
Trotzkopf durchsetzen!
Schließlich
war mir auch noch im entscheidenden Augenblick, als ich mich gerade
durchgerungen hatte, Galvorn die Wahrheit einzugestehen, ein gewisser Elb aus
dem Düsterwald in die Quere gekommen! – Im Nachhinein sah ich unser Treffen
nämlich mit nicht mehr ganz so euphorischen Augen. Sicher, ich war
überglücklich, daß er in Bruchtal war, und die Schönheit des Leithianliedes
klang noch jetzt in meinen Ohren, sooft ich daran dachte. Aber nüchtern
betrachtet war seine Anwesenheit in Bruchtal das einzige, was zählte, und dazu
wäre es nicht nötig gewesen, ihm persönlich zu begegnen.
Später
hatte mir jeder Ansporn zu einer Generalbeichte gefehlt.
Der Tag
rückte näher, an dem die wenigen Reiter Bruchtals, die offen gegen die Neun
reiten konnten, ausgesandt werden sollten. Obwohl Galvorn nicht zu diesen
wenigen gehörte, hatte er sich dennoch entschlossen, seinen Vater auf dieser
Mission zu begleiten. Was auch immer seine Beweggründe dafür waren, weder er
noch Lindor hatte es mir mitgeteilt, und ich sah beide nur noch selten in all
den Tagen.
Es hätte
mich ja schon mal interessiert, was es da eigentlich so lange vorzubereiten
gab. Genügte es denn nicht, ein Proviantpäckchen zu schnüren und sich aufs
Pferd zu schwingen? Dieses brauchte man als Elb vorher nicht einmal zu satteln!
Eine kurze Streckenaufteilung: nach Süden, Norden, Osten, Westen... Das sollte
doch reichen, oder? Was gab es da bloß tagelang zu besprechen? Sie würden wohl
kaum irgendwelche „Standard Verhaltensmaßnahmen bei Feindberührung“ einüben!
Obwohl... konnte man es wissen? Elben waren manchmal so provozierend
perfektionistisch...
Neben mir
im Gras zog eine Amsel mit steigender Begeisterung an einem dicken fetten
Regenwurm, der immer länger wurde und gar kein Ende nehmen wollte. So sehr der
Wurm sich auch dagegen sträubte, er mußte schließlich die Erde fahren lassen,
und die Amsel plumpste mit dem Schwung der eigenen Kraft hinterrücks zu Boden.
Sie rappelte sich sogleich wieder auf, schlug zweimal energisch mit den
Flügeln, präsentierte mir stolz und zufrieden ihre Beute und flatterte davon.
Ich
schmunzelte versonnen. So war des einen Leid des andern Freud.
„Erestor hat
sich über dich beklagt.“ Bilbo kicherte in sich hinein, so daß das Geschirr auf
dem Tablett leise vibrierte. „Er macht dich für die ganze Unordnung
verantwortlich, die in seiner Bibliothek herrscht.“
„Unordnung?“
Verständnislos runzelte ich die Stirn und beobachtete geistesabwesend, wie der
kleine Mann sich damit abmühte, das schwere Tablett auf den für ihn viel zu
hohen Tisch zu heben. Als ich mich in Bewegung setzte um ihm meine Hilfe
anzubieten, hatte er diese bereits nicht mehr nötig. Also mopste ich einen
Butterkeks und setzte mich auf die Bank, während ich genießerisch hineinbiß.
„Was für
Unordnung?“ wiederholte ich, da Bilbo zu beschäftigt gewesen war, auf meine
Frage zu antworten.
„Er
meinte, solche Zustände hätte es bisher dort noch nicht gegeben. Erst seit du
hier bist. Er war wirklich sehr ungehalten.“ Was, wie es schien, ein Grund für
das humorvolle Kerlchen war, sich köstlich zu amüsieren.
„Aber was
denn für Zustände, zum Na...“ Ich biß mir auf die Zunge und schluckte gerade
noch rechtzeitig ein Kraftwort hinunter, das zu diesem Zweck in Mittelerde
nicht verwendet wurde. Wieso konnte man auf elbisch eigentlich nicht ordentlich
fluchen? Zum Nazgûl aber auch!
„Kekskrümel!“
erklärte Bilbo mit gewichtiger Miene.
„Kekskrümel?“
echote ich mit dümmlichem Gesichtsausdruck.
„Zwischen
seinen ordentlichen Bücherreihen!“ nickte der Hobbit.
„Ke---?“
Vor Empörung blieb mir das Wort im Halse stecken. Ich mußte zum zweiten Mal
Anlauf holen. „Kekskrümel! Aber du warst
doch derjenige, der ihn dazu überredet hat, daß wir unseren Imbiß in der
Bibliothek einnehmen dürfen!“ Und jetzt sollte ich schuld an ein paar harmlosen Krümeln sein? Trotzig verschränkte
ich die Arme.
„Aahh“,
dehnte Bilbo. Er hob Zeigefinger und Augenbrauen. „Aber wir Hobbits sind viel
zu gefräßig um auch nur ein winziges Krümelchen zurückzulassen.
- Nicht
meine Worte!“ fügte er als Reaktion auf meinen herunterklappenden Unterkiefer
hinzu. „Das hat der werte Herr Bibliothekar mir genau so ins Gesicht gesagt.“
„Das war
aber nicht sehr nett.“ Ich dachte immer, Elben wären höflich...
„Oh, und
daß Celthor ihm jetzt regelmäßig Bücher und Schriftrollen aus seinem Heiligtum
entwendet, ist ebenfalls deine Schuld. Der unzivilisierte Elb aus dem
Düsterwald wäre sonst nämlich gar nicht erst hier.“
„Ich
weiß...“ nuschelte ich zerknirscht. „Ist trotzdem nicht freundlich von ihm,
dich so zu schelten.“
Bilbo
zuckte zum Ausdruck seines Mitgefühls die Achseln. „Er stand ein wenig neben
sich, als ich ihm begegnete. Immerhin hatte er gerade entdeckt, daß in seinem
wertvollsten Regelwerk der grauelbischen Sprache eine komplette Seite fehlt...“
Autsch!
Wo war nur immer dieses verflixte Loch zum Versinken, wenn man es nötig hatte?
Ein starker Beschützer wäre jetzt auch nicht schlecht. Suchend blickte ich mich
um. Doch außer Bilbo war niemand in der Nähe.
Naja,
also, das tapfere Kerlchen in allen Ehren. Aber ich glaubte nicht daran, daß
Bilbo mir wirklich beistehen konnte, wenn Erestor mich zu fassen bekam.
Ich hatte
da schon eher an jemanden gedacht wie... Glorfindel. Ja genau. Bei dem würde
ich mich jetzt sicher fühlen. Hoffentlich waren die beiden nicht befreundet,
überlegte ich. Dann fiel mir ein, daß der goldblonde Elb ebenfalls mit den
Vorbereitungen zur Ringgeisterjagd beschäftigt war. Zu dumm! Wer blieb mir
sonst noch?
Aragorn?
Nein, der schlich wahrscheinlich gerade irgendwo in oder um Bree herum.
Vielleicht würde er bereits heute Abend im Gasthaus „Zum tänzelnden Pony“
einkehren und auf die vier Hobbits treffen. Möglicherweise waren sie aber auch
schon unterwegs und quälten sich gerade durch die Mückenwassermoore.
Es konnte
jedoch genauso gut sein, daß Frodo noch gar nicht von zuhause aufgebrochen
war...
Mißmutig
schob ich einen Keks ganz am Stück in den Mund, als mir bewußt wurde, wie wenig
ich mir wieder einmal über den richtigen Zeitplan im klaren war.
„Mir
fehlt das Zeichen für Rómen!“ drängelte Bilbo.
Während
ich mein übliches, halblautes Zwiegespräch geführt hatte, hatte der kleine Mann
sich auf der Bank zurechtgerückt, seine Pergamentbögen sortiert, das Tintenfaß
entkorkt und die Feder eingetaucht. Mit fachkundiger Miene überflog er seine
Notizen und tippte mit der linken Hand auf das Ende seiner Aufzeichnungen,
während seine Rechte arbeitseifrig über dem Tintenfaß schwebte, damit kein dunkler
Fleck auf Papier oder Tisch tropfen konnte.
Benommen
schüttelte ich alle störenden Gedanken von mir ab, um mich ganz meiner Aufgabe
zu widmen.
„Das geht
so.“ Ich zeichnete mit dem Zeigefinger ein großes „R“ auf die Tischplatte und
wiederholte das zwei- dreimal, bis Bilbo den Buchstaben erfaßt hatte.
„Wie
nennt ihr ihn?“
Ich
zuckte die Achseln. „Na: Errrrrr...“ Ich rollte ihn so gut ich es vermochte.
„Ein
seltsamer Name. Eure Buchstaben haben überhaupt komische Bezeichnungen“,
stellte Bilbo fest, klemmte die Zungenspitze zwischen die Zähne, malte äußert
konzentriert ein großes, geschwungenes „R“ auf sein Blatt und schrieb in
elbischer Schrift „Rómen“ daneben.
„Wie
schreibt man das?“
„Errrr?“ Ich
lachte. „Das ist kein Name. Das ist einfach der Laut. Unsere Buchstaben haben
keine eigenen Namen.“
Bilbo
blickte enttäuscht drein. „Das ist aber schade...“, murmelte er und betrachtete
sich seine neueste Errungenschaft. „Man kann sie sich besser merken, wenn sie
einen Namen haben.“
„Wirklich?“
staunte ich. Für mich war es nur doppelte Arbeit gewesen, zu den Tengwar auch
noch die Bezeichnung zu lernen...
„Und
findest du nicht, sie hätten einen Namen verdient?“
Darauf
konnte ich ihm nichts antworten. Außer vielleicht...
„Ich
könnte mir Namen für sie ausdenken“, bot ich ihm an. „Was hältst du zum
Beispiel von... R wie Rabe?“
„Ra-be?“
Bilbo Züge heiterten sich auf wie der Himmel nach dem diesigen Morgen eines
klaren Sommertages. „Das klingt hübsch!“
„Gut.
Ähm... Kann ich vielleicht auch einen Bogen Papier kriegen?“ Wenn ich wirklich
allen Buchstaben unseres Alphabetes deutsche Namen verpassen wollte, dann mußte
ich sie mir vor allem selbst notieren. Sonst würde ich nämlich schon sehr bald
wieder vergessen haben, welche Worte ich da aus meinem imaginären Zylinder
gezaubert hatte!
Bilbo
lernte an diesem Nachmittag noch die Blume, den Kater und den Ofen. Dann legte
er müde die Schreibfeder zur Seite, sein Kopf nickte langsam nach vorne, und
die Augen fielen ihm zu. Er war im Sitzen eingeschlafen. Nun, er war
schließlich auch schon ein sehr alter Hobbit.
Ich
betrachtete ihn eine Weile lächelnd und erhob mich leise. Es war still hier in
den Gärten. Ein einziger, mir unbekannter Vogel trällerte sein schwungvolles
Lied. Irgendwo zirpte eine Grille im falschen Takt dazwischen, ohne daß dies
die Harmonie der Melodie nachhaltig gestört hätte. Ein kleiner Bachlauf
plätscherte munter vor sich hin.
Hin und
wieder erklang halblaut ein wohliger Schnarchton aus der Richtung des
schlummernden Hobbits. Irgendwann würde er – nach einem ruckartigen Herabnicken
des Kopfes – erwachen und feststellen, daß er >wieder ein bißchen
geschlafen< hatte. Seine kurzen Nickerchen dauerten so in etwa zwei bis fünf
Minuten, aber sie waren für Bilbo offensichtlich sehr erfrischend. Er wirkte
danach so ausgeruht, als hätte er eine ganze Nacht geschlafen. Und
dementsprechend schätzte er auch die Zeit ein. Es kam vor, daß er während eines
Übungskampfes einnickte, um sich dann zu wundern, daß >die beiden noch immer
fechten und einfach nicht müde werden<.
Nachdenklich
setzte ich mich an einen kleinen Tümpel ins feuchte Moos, umfaßte die
angewinkelten Beine mit beiden Armen, legte das Kinn auf die Knie und starrte
übers Wasser. Erst als Aiwendils fröhliches Zwitschern neben mir erklang
erkannte ich, daß dies derselbe Weiher war, an dem ich ihm vor fast zwei Jahren
zum ersten Mal begegnet war. Der kleine Vogel und ich saßen sogar auf genau den
selben Plätzen wie damals. Fehlte eigentlich nur noch, daß Lindor lautlos von
hinten geschlichen kam. Zu übersetzen brauchte er mir das Gezwitscher heute
jedoch nicht mehr.
Aiwendil
erkundigte sich auf seine Art, wie ich mich fühlte.
„Gut“,
antwortete ich neutral, denn ich war mir meines Befindens gerade nicht wirklich
bewußt.
Er legte
das Köpfchen schief und musterte mich, als wollte er meine Antwort in Frage
stellen.
„Naja...
es ist mir schon besser gegangen“, lenkte ich ein.
Das
Vögelchen war mit dieser Antwort noch nicht zufrieden und fiepte kurz und schrill.
„Schon
gut! Es würde mir besser gehen, wenn Galvorn hier wäre.“
Aiwendil
plusterte sich auf und keckerte spöttisch.
Hinter
mir knackte ein dürrer Zweig. Es näherte sich jemand und hatte ihn dabei mit
dem Fuß geknickt. Nichts Ungewöhnliches eigentlich. Außer wenn man sich an
einem Ort befindet, an dem es lauter Elben und einen Hobbit gibt. Denn keiner
von ihnen würde mit leichtem Schritt ein Ästchen zerbrechen. Trotzdem bestand
kein Grund zur Beunruhigung. Ich wandte mich gemächlich um –
- und bekam
nun doch einen Anflug von Panik. Denn hinter mir stand Galvorn!
Hatte er
gehört, was ich soeben zu Aiwendil gesagt hatte? Hatte er deshalb absichtlich
einen Zweig zerbrochen, damit ich seine Annäherung bemerken sollte, er somit
nicht als Lauscher dastand und ich Gelegenheit hatte, das Thema zu wechseln
oder einfach zu schweigen?
Für etwa
fünf Sekunden hielt ich die Luft an, versuchte, nicht zu erröten, nicht die
Brauen hochzuziehen, nicht die Augen zu weiten, nicht schwer und vernehmlich zu
schlucken – und überhaupt so nichtssagend wie möglich dreinzublicken. Dabei sah
ich nach eigenem Empfinden nach allem aus, nur nicht nach dem, was ich fühlte
oder wie ich erscheinen wollte. Stattdessen wirkte ich einfach nur verkrampft.
Ebenso
langsam, aber wesentlich verspannter, drehte ich mich wieder um und starrte
höchst konzentriert auf die ruhige Wasseroberfläche des Tümpels. Kleine Kreise
bildeten sich darauf, als irgendein Insekt wie ein Gummiball hüpfend darüber
flog.
Wortlos
trat Galvorn an meine Seite, setzte sich jedoch nicht.
„Wir
werden bald fortreiten“, erklärte er mir mit der Emotion eines wiederkäuenden
Ochsen.
„Wohin?“
Ich bemühte mich um einen angepaßt desinteressierten Tonfall.
„Nach
Norden...“
„Ah...“
War das nun gut oder schlecht? „Wer sind >wir<?“
Vielleicht
verzog Galvorn das Gesicht oder zuckte die Achseln... Da ich noch immer auf das
Wasser starrte, sah ich es nicht. Und hören konnte ich auch nichts, außer einem
nichtssagenden, extrem kurzen Grummeln.
„Wann?“
versuchte ich mit einer neuen Frage mein Glück. Da dämmerte es mir, daß ich
doch ein wenig mehr Interesse zeigte, als ich mir vor zwei Augenblicken
vorgenommen hatte, und biß mir blockierenderweise auf die Zunge.
Vor lauter
Ärger darüber, meine besten Vorsätze wie Sand durch die Finger rinnen zu sehen,
sobald Galvorn in meiner Nähe war, verpaßte ich seine Antwort. Und war mir im
gleichen Moment unsicher darüber, ob er überhaupt eine abgegeben hatte.
Übellaunig
knabberte ich an einem mitgebrachten Keks.
Galvorn
stand neben mir. Die Zeit verging. Und es herrschte Schweigen zwischen uns. Wie
lange diese bedrückende Stille andauerte, konnte ich nicht sagen. Aber die
ganze Zeit hoffte ich darauf, daß er etwas sagen würde. Irgend etwas. Oder daß
er sich setzen würde.
Und ich
überlegte, was ich sagen oder ihn fragen könnte. Plötzlich wollte ich nämlich
nicht mehr die Gleichgültige spielen. Ich wollte mit ihm reden. Wollte mit ihm
scherzen, so ungezwungen und frei wie damals im Waldelbenreich. Mehr noch. Ich
sehnte mich danach, von ihm in den Arm genommen zu werden, mich an ihn zu
schmiegen und seine Nähe zu spüren – körperlich sowie geistig – jene
Verbundenheit, die mich so tief erschüttert und seither nicht wieder wirklich losgelassen
hatte.
„Galvorn,
ich muß dir was sagen...“ Meine Stimme zitterte und ich räusperte mich schnell,
bevor ich zu ihm aufblickte.
Er hatte
sich bereits zum Gehen gewand, hielt inne und sah mich fragend an.
Ich
öffnete den Mund und schloß ihn gleich wieder.
„Das ist
jetzt nicht wahr, oder?“ platzte ich unkontrolliert meine Enttäuschung heraus,
in die sich als nächstes aufkommende Wut mischte. „Du wolltest jetzt nicht
wirklich gehen, ohne einen Ton zu sagen, wie? Wozu bist du eigentlich hergekommen?“
Was
erwartete ich? Abbitte? Ein Schuldbekenntnis?
Galvorn
sah mich verständnislos an und hatte ganz offensichtlich nicht die geringste
Ahnung, was ich von ihm wollte.
„Das
sagte ich bereits.“
Hä? Wie
bitte?
Völlig
perplex starrte ich ihn an. Kam nicht einmal mehr auf die Idee, den Mund zu
schließen, weil ich zu verdattert war, überhaupt zu bemerken, daß er
offenstand. Dazu fühlte ich mich dermaßen vor den Kopf gestoßen, daß ich es
nicht fertig brachte, meine Wut über sein unsensibles Verhalten aufrecht zu
erhalten. Plötzlich fühlte sich alles in mir... leer an.
Er hatte
gesagt, was er wollte? Und was bitteschön sollte das gewesen sein? Daß er bald
fortreiten würde? Das war ein Witz, oder?
>Dann
hau bloß ab!< schrie etwas in mir.
Ein anderer
Teil meines Ichs hoffte darauf, ihn gleich frech grinsen zu sehen. Er würde
dann mit einem schelmischen Augenzwinkern und einer lockeren Bemerkung
umkehren, sich zu mir setzen und der böse Bann der letzten Tage wäre endlich
gebrochen.
Ich
wollte aufstehen. Auf ihn zugehen. Mich ihm endlich zu erkennen geben.
Aber ich
blieb sitzen, umklammerte die Knie noch fester mit beiden Armen und richtete
meinen Blick über den Teich. Nicht das Wasser sah ich; weder die Insekten noch
die vielfältige Bepflanzung. Ich starrte ein Loch in die Luft, so groß wie die
Nasenlöcher eines Olifanten.
Ich sah
es nicht und konnte es nicht hören, aber ich spürte auf ungewisse Weise, wie er
sich neben mir ins Gras niederließ.
Noch
immer leicht distanziert, aber mit unterschwelliger Fürsorglichkeit erkundigte
er sich:
„Was
wolltest du mir denn sagen?“
Ich
schluckte schwer. Es war soweit. Jetzt mußte ich Farbe bekennen. Jetzt... oder
nie.
Beklommen
zerbröselte ich das letzte Stückchen Keks und betrachtete angespannt mein Tun.
„Erinnerst
du dich an unsere Zeit im Waldelbenreich?“ Was für eine ausgesprochen dämliche
Frage! Aber Galvorn nickte artig – auch etwas, das ich instinktiv spürte, ohne
es zu sehen.
„Ich
vermisse die Kinder.“ Ich vermißte sie wirklich.
Der
letzte Kekskrümel fiel zu Boden und ich suchte nach etwas anderem, an dem ich
meine Befangenheit abreagieren konnte. Da lag ein kleines Ästchen. Ich streckte
mich danach, doch bevor ich es erreichen konnte, hob Galvorn es auf, und hielt
es in einer Art zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, die mir
verbot, es an mich zu nehmen.
Auf
sonderbare Weise wurde ich dadurch gezwungen, den Kopf zu heben und ihm in die
Augen zu sehen.
Nachdenklich
lag sein Blick auf mir. Eine Traurigkeit erfüllte seine Augen – diese
wunderschönen smaragdgrünen Augen – die mir das Wasser in die meinen trieb.
„Ich bin
keine Verräterin!“ seufzte ich hilflos.
Galvorn
zog nur ganz leicht eine Augenbraue hoch und schwieg.
>Los,
sag was! Bitte!<
„Erklär
es mir.“
Und er
konnte doch Gedanken lesen!
Aber was
sollte ich sagen? Wie sollte ich beginnen?
Ach,
übrigens: Ich komme aus einer anderen Welt?
Mutlos
ließ ich Kopf und Schultern sinken.
In diesem
Zustand der Resignation fiel mir brennendheiß ein, daß ich Radagast mein Wort
gegeben hatte. Einen heiligen Schwur, nicht noch jemandem von meiner Herkunft
zu berichten.
Neben mir
saß Galvorn, und ich konnte seine Erwartung beinahe greifen, so gespannt war
die Luft zwischen uns. Gab es jetzt noch eine Möglichkeit, mich herauszureden?
In meiner
Not kniff ich die Augen fest zusammen und steckte meinen Kopf zwischen die
Knie. So, wie ich es als kleines Kind oft getan hatte. Ihr wißt schon: Ich sehe
dich nicht, also siehst du mich auch nicht. Ach, wenn doch Probleme so leicht
zu lösen wären!
„Radagast
wird mich lynchen!“ jaulte ich in meiner Muttersprache, durch Beine und Stoff
gedämpft.
Meine
Gedanken rasten – zumindest versuchten sie das. Aber irgendwie waren beim
Starten die einzelnen Impulse an- und ineinander geraten und hatten sich verheddert
wie ein Wollknäuel, das den begeisterten Pfoten einer ganzen Horde junger
Kätzchen zum Opfer gefallen war.
Ich wußte
keinen Ausweg. Hatte keine Idee, wie ich mich eleganter oder glaubwürdiger
erklären sollte. Es mußte also wohl doch die plumpe
„Ich-komme-aus-einer-anderen-Welt“-Offenbarung werden.
„Wieso
sollte er das tun?“
Ich fuhr
hoch und starrte Galvorn mit weit aufgerissenen Augen an.
„W-wer?“
stotterte ich.
„Radagast.“
„W-wie?“
Hatte meine Stimme schon nicht in ihrer Tieflage begonnen, so erreichte sie mit
dem letzten Laut eine rekordverdächtige Höhe.
Was
geschah hier? Konnte Galvorn nicht nur Gedanken lesen, sondern verstand jetzt
auch noch Deutsch? Das war einfach völlig und vollkommen unmöglich!
Doch Galvorn
ließ sich durch mein Entsetzen nicht aus der Ruhe bringen. Mit seiner sonoren
Stimme, die nach meinem Quietschen noch angenehmer klang, erklärte er:
„Es hörte
sich an wie: Radagast wird mir den Hintern versohlen.“
Natürlich.
Den Namen hatte er schließlich verstehen können. Ich atmete auf.
Ein
Lächeln huschte über Galvorns Gesicht, das unglaublich ansteckend wirkte.
„Tu sowas
nie wieder, hörst du?!“ Ich boxte ihm den Ellenbogen in die Seite und lachte.
Aller Kummer war vergessen.
„Was
denn?“ stellte Galvorn sich betont ironisch unwissend.
„So tun,
als könntest du meine Gedanken lesen!“
„Aber das
kann ich.“
„Ja,
sicher...“
„Gerade
denkst du, daß ich der bestaussehende Elb in ganz Mittelerde bin.“
Oh Mist!
Das hatte ich tatsächlich gedacht!
„Das
bildest du dir nur ein“, zickte ich.
>Tut
er nicht<, zwitscherte Aiwendil dazwischen.
„Tu ich
nicht“, neckte Galvorn.
„Püh!“
spielte ich die Beleidigte, um meine Verlegenheit zu überspielen. Mann, war das
peinlich! Konnte ich nicht auch mal schlagfertig sein? Ein einziges Mal?
Fieberhaft dachte ich über eine Bemerkung nach, mit der ich die Situation
entschärfen konnte. Mir fiel nichts ein. Dabei konnte ich nur daran denken, wie
dämlich ich mich gerade benahm, und dann schoß mir natürlich auch noch das Blut
in den Kopf. Ich schloß die Augen.
„Soll ich
dir sagen, was ich denke?“
„Daß ich
die dümmste Gans bin, die dir jemals begegnet ist?“
Galvorn
lachte. „Du weißt schon, daß Gänse äußerst intelligente Tiere sind?“
„Ja
sicher.“
„Ich
denke, du kannst keine Gedanken
lesen.“
„Oh, wie
sinnig...“
„Sonst
hätte deine Antwort lauten müssen: Daß du das reizendste Wesen bist, das mir je
begegnet ist.“
„Wirklich?“
Unsicher blickte ich zu ihm auf. „Ich meine, denkst du das wirklich?“
„Hätte
ich es sonst gesagt?“
„Ich weiß
nicht...“
Galvorn
strich mir eine wirre Haarsträhne hinters Ohr und ließ seine Hand sanft in
meinem Nacken liegen.
„Aber
ich“, flüsterte er, und ehe ich mich versah beugte er sich zu mir, und unsere
Lippen berührten sich zu einem Kuß. Ganz vorsichtig, fast verstohlen – und viel
zu kurz für die heftige Leidenschaft, die im selben Moment in mir aufflammte.
Ich wollte mehr. Doch Galvorn hatte bereits von mir gelassen und saß so
unbewegt neben mir, daß ich es nicht wagte, mich ihm zu nähern. Ich atmete
mehrere Male tief durch und bemühte mich, meine hochlodernden Emotionen
niederzuringen. Ich kam mir vor wie ein vorm Ertrinken Geretteter, der
lautstark nach Luft schnappt. Doch statt Sauerstoff bekam ich nur Wasser zu
schlucken, und die Beklemmung in meiner Brust wurde drückender.
„Vergib.
Ich hätte das nicht tun sollen.“
„Aber...“
„Ich bin
an mein Schicksal gebunden.“
„Dein
Schicksal?“
„Elanor,
weißt du, was einem Erstgeborenen bevorsteht, der sein Herz an eine Sterbliche
verliert?“
„Aber ich
bin nicht...“ Galvorn hielt mir einen Finger vor den Mund, ehe ich
weitersprechen konnte.
„Ich bin
noch nicht bereit, diesen Weg zu gehen.“
Aber er
zog bereits in Erwägung, es zu tun? Mit großen Augen starrte ich ihn an.
Als hätte
er erneut meine Gedanken gelesen, nickte er bestätigend, und ohne ein weiteres
Wort stand er auf und ging fort.
~*~