Drei Tage
waren vergangen, in denen sich nichts wirklich Erzählenswertes zugetragen
hatte. Ich hatte ein Schwätzchen mit Legolas gehalten, Bilbo ein paar weitere
Buchstaben erklärt und Celthor bei der Restaurierung eines beschädigten Buches
geholfen. Der stille Düsterwaldelb hatte ein Händchen für diese Arbeit und
Freude daran. Er und Erestor konnten sich stundenlang über diverse Techniken,
Materialien und die passenden Werkzeuge dafür unterhalten. Die beiden
verstanden sich nach ihren anfänglichen Meinungsverschiedenheiten prächtig.
Einmal begegnete ich Erestor auf dem Weg in den Park – ein Buch unterm Arm! Vor
Erstaunen vergaß ich ganz, daß ich bei dem Elrond'schen Bibliothekar in Ungnade
gefallen war, und bevor es mir wieder einfallen konnte, nickte er freundlich
grüßend im Vorübergehen.
Gestern
Nachmittag war Frodo aufgewacht. Als Bilbo es mir erzählt hatte, hatte ich mir
vorgenommen, den Speisesaal für die nächste Zeit zu meiden. Besonders dann,
wenn Frodo das erste Mal zum Abendessen erscheinen würde. Das war nämlich die
Begebenheit, von der ausführlich im „Herr der Ringe“ erzählt wurde – und da
wollte ich auf keinen Fall das Risiko eingehen, irgendwo bei den Festgästen
erwähnt zu werden.
Es war
mir leichter gefallen, als erwartet. Genau genommen war es letztendlich nicht
einmal meine Entscheidung gewesen. Oder zumindest hatten Galvorns Einladungen
zu einem abendlichen Picknick gestern und dem heutigen Morgenausritt mir die
Wahl erleichtert.
Irgendwann
in der Nacht mußte Boromir eingetroffen sein. Ich sah seinen Braunen bei den
übrigen Pferden auf der Koppel stehen. Das arme Tier war ziemlich erschöpft.
Deshalb war es mir gleich aufgefallen, als ich Brasfaloth von der Weide geholt
hatte. Galvorn bestätigte mir dann, daß es einem mutigen Krieger aus dem Süden
gehörte. Da war klar, wer gemeint war
Das
Mittagessen war bereits vorbei, als Galvorn und ich von einem wundervollen
Ausritt zurückkamen. Wir hatten uns für nachher an „unserem“ Teich verabredet
und Galvorn hatte versprochen, etwas Eßbares aufzutreiben, während ich mich
umkleiden und ein entspannendes Bad genießen wollte. Vergnügt trällerte ich
irgendeine zusammenhanglose Melodie vor mich hin - mit einem Text, der sehr
viele „Tralali-lala“ und wenig vollständige Sätze enthielt.
Beim Treppenaufstieg
kam mir ein nachdenklicher Bilbo Beutlin entgegen. Er trug etwas Längliches,
Flaches, das er in ein wollenes Tuch gewickelt hatte.
„Hallo
Bilbo!“ sang ich. „Wohin des Wegs?“
„Ah,
Elli! Lange nicht mehr gesehen...“ Er wirkte abwesend, und ich hielt abrupt mit
meinem Singsang inne.
„Was hast
du denn da?“ Ich deutete auf das Bündel in seinen Händen.
„Das?
Oh... das ist Frodos Schwert. Ich will es gerade zum Schmied bringen. Der gute
Junge wird es bald brauchen.“
„Ach so.
Na dann...“ Ich zuckte die Achseln. Demnach hatte heute Vormittag der Rat
getagt, überlegte ich, und wollte weitergehen.
Ähm.
Hallo? Moment! Da stimmte doch etwas nicht!
Ich hielt
mitten im Schritt inne. Ein Fuß verweilte zögernd in der Luft.
„Sagtest
du soeben >Frodos Schwert<?“
„Ja. Ich
sagte, ich will es zum Schmied bringen“, bestätigte Bilbo.
„Was...
äh... ist das denn für ein Schwert? Ich meine... was ist denn damit?“
„Es ist
zerbrochen.“ Bilbo wickelte das Tuch auseinander und zeigte mir die
Bruchstücke.
Irritiert
starrte ich die Waffe in seiner Hand an. Was auch immer das da für ein Ding
war, eines war es mit Sicherheit nicht: Das
da war kein Mithrilschwert! Es war nicht
Stich!
Aber
hatte Frodo nicht Stich mitgenommen? Was zum Nazgûl... Was sollte er denn mit dem da?
Nun gut
Elli, reg dich nicht auf! redete ich mir ein. Es gibt sicher eine ganz simple
Erklärung dafür. Zum Beispiel die: Bilbo hat Frodos altes Schwert heil machen
lassen und später eingesehen, daß Stich die bessere Waffe für ihn ist.
Oder: Das
alte Schwert war so kaputt, daß es nicht mehr geflickt werden konnte.
Oder...
Während
Bilbo die Waffe wieder in das Tuch einschlug, versuchte ich, eine Lösung für
das scheinbare Problem zu finden.
>Ach
was! Laß es sein, Elli! Du weißt doch, daß du dich nicht einmischen sollst! Die
Geschichte wird schon den richtigen Weg nehmen<, ermahnte mich meine innere
Stimme. Ausnahmsweise klang sie weder höhnisch noch tadelnd. Sie war...
unsicher.
Wieder
wandte ich mich zum Gehen. Wieder hielt ich inne.
Ach, was
soll’s! Es wird die Geschichte schon nicht gleich aus den Fugen bringen, wenn
ich...
„Bilbo?“
rief ich den alten Hobbit zurück. „Mir ist da noch etwas für mein Buch
eingefallen. Aber ich weiß nicht genau, wie es beschreiben soll. Hilfst du mir
dabei?“
„Gerne!“
Bilbo war sofort Feuer und Flamme. Großartig! „Warte nur eine kleine Weile. Ich
bringe noch eben das Schwert zum Schmied.“
„Ach. Das
hat doch sicher noch Zeit. Das kannst du immer noch.“ Ich war auf ihn
zugegangen und versuchte, ihn am Weitergehen zu hindern. „Du weißt doch wie das
mit schriftstellerischer Inspiration ist. Wenn man ihr nicht auf der Stelle
nachgibt, dann verfliegt sie wieder.“
„Es ist
gar nicht weit. Ich bin sogleich zurück.“ Er huschte mit ein paar flinken
Schritten an mir vorbei und war schon fast am Tor.
Oh nein!
Das war gar nicht so leicht wie gedacht!
„Aber...
aber Bilbo!“ klagte ich. „Dann hab ich womöglich wieder vergessen...“
„Schreib
es schon mal auf!“ riet er. „In Stichworten. Dann helfe ich dir nachher, es zu
formulieren.“
Mist. So
ging das nicht. Was nun?
„Ich habe
meine Schreibfeder verlegt“, jammerte ich herzerweichend.
Bilbo
ließ den Türgriff fahren und wandte sich um. Ich atmete vorsichtig aus.
„Oh! Das ist
nicht gut. Gar nicht gut. Verlege niemals deine Feder! Wo hast du dein Buch? In
deinem Zimmer? Laß es uns gleich holen und dann gehen wir zu mir. Ich habe noch
einen halben Apfelkuchen und...“ Mehr hörte ich nicht mehr, weil er bereits
vorausgegangen war und mehr zu sich selbst als zu jemand anderem sprach.
Das war
knapp! Sehnsüchtig blickte ich zurück zum Tor. Das heiße Bad würde warten
müssen. Und Galvorn auch...
Abgesehen
davon verlief der frühe Nachmittag prächtig. Die Inspiration kam von selbst,
als ich mein Buch auf der letzten beschriebenen Seite aufschlug und ein paar
Sätze laut vorlas. Dieses Buch hatte mir Bilbo geschenkt, weil ich mit meinen
vielen Notizzetteln nicht mehr zurechtgekommen war und sie ständig
durcheinander geworfen hatte.
„Die
richtige Reihenfolge“, sagte er dann, „auf die kommt es an. Eine Geschichte
sollte so erzählt werden, daß man ihr folgen kann. In einem festen Einband kann
dir nichts mehr durcheinander geraten. Da bleibt alles schön, wo es hingehört!“
Mit diesen Worten hatte er mir das Buch überreicht. Ich war außer mir vor
Freude!
Es war
ein schickes Buch. Mit einem roten Ledereinband. Ganz ähnlich dem, in welches
Bilbo seine Geschichte schrieb. Das
erfüllte mich mit Stolz.
Aber seit
einiger Zeit schrieb ich nicht mehr nur noch in dieses Buch. Ich hatte damit
begonnen, die komplette Geschichte noch einmal zu schreiben. Auf einzelne
Blätter. Und auf Deutsch!
Bilbo
schaute zunächst ein wenig pikiert drein, als ich meine Loseblattsammlung
hervornahm. Dann erkannte er die Schrift und sah interessiert genauer hin.
„Was ist
denn das für eine Sprache?“ fragte er erstaunt, als er versuchte, die ersten
Wörter zu entziffern. „D-E-R U-NG-E-B-E-T-E-N-E
B-E-S-U-CH....“
„Das ist
meine Muttersprache.”
„Für wen
schreibst du es?“
„Für
meine Mutter...“
Traurig
ließ ich die Feder sinken und zog den Brief aus dem Beutel, den ich an einem
Lederriemen um den Hals ständig bei mir trug. Nach meinem unfreiwilligen Bad
hatte ich ihn neu schreiben müssen. Die ganze Tinte war verlaufen und die
einzelnen Wörter kaum zu lesen gewesen. Dabei waren die Erinnerungen und das
Heimweh wieder hochgekommen.
„Liest du
mir etwas davon vor?“ riß Bilbo mich aus meinen Gedanken. „Ich möchte gerne
hören wie es klingt.“
Ich nickte,
zog die Nase hoch und unterdrücke so die aufkommenden Tränen. Dann las ich vor:
„Seufzend schloß
ich die Haustür hinter mir und schaltete die Lampe ein. Draußen strahlte die
Sonne noch hell vom wolkenlosen Himmel, doch hier im Gang war es dunkel. Keine
Fenster. Nicht einmal ein Spion in der Tür, durch den ein wenig Licht hätte
hereindringen können.“
Ach,
diese Tür... Ich erinnerte mich noch gut. Eine dunkle Brettertür. Besser
geeignet für einen Geräteschuppen als für ein Wohnhaus. Ich hatte mir eine neue
kaufen wollen. Eine weiße. Eine, die viel Licht durchlassen würde. Dazu würde
ich nun nicht mehr kommen.
Ich
blinzelte ein paar Tränen weg.
In der
elbischen Version meiner Geschichte hatte ich die ersten Seiten natürlich vor
Bilbo geheim halten müssen. Auch bei den übrigen Kapiteln mußte ich genau
darauf achten, was ich ihm zeigen durfte und was nicht. Irgendwann einmal,
würde ich es ihn lesen lassen.
Bilbo
hatte sich sein Pfeifchen gestopft, blies Rauchkringel in die Luft und blickte
ihnen versonnen nach, während er aufmerksam meiner Stimme lauschte.
Nach dem
dritten Absatz hielt ich inne.
„Es
klingt ein wenig abgehakt“, resümierte er, „nicht so fließend wie die elbischen
Sprachen.“
„Das
liegt zum Teil an meiner Art des Vorlesens. Ich bin nicht so vertraut mit der
reinen Ausdrucksweise und sie geht mir nur schwer über die Lippen.“ Ich war
beim Vorlesen mehrfach über meine Zunge gestolpert und hatte für das Wort
>Spion< gar drei Anläufe gebraucht. „In gesprochener Form kommt sie ohnehin
eher selten vor. In den meisten Gegenden sprechen wir Dialekte.“
„Und in
denen werden viele harte Laute dann verwischt und Wörter aneinandergebunden?“
vermutete Bilbo wißbegierig.
Ich
überlegte. „Ja, ich glaube schon... Zumindest in meinem Heimatdialekt ist es
so. Aber mit all den anderen kenne ich mich zu wenig aus, um das bestätigen zu
können.“
Bilbo war
richtig gefesselt von dem Thema. Er beugte sich herüber und tippte mit dem
Zeigefinger auf den Anfang meiner deutschen Notizen.
„Wie
würde sich das in deinem Dialekt anhören? Liest du es noch einmal für mich?
Bitte!“ bettelte er.
Ich
lachte amüsiert. Dann las ich ihm die gleiche Stelle noch einmal vor. Auf
Mosel-Fränkisch! Das klang selbst für den alten Hobbit so ulkig, daß er bald in
mein Kichern einstimmte. Diese Version war eindeutig flüssiger, bestätigte er
mir gut gelaunt.
Die
Hälfte des halben Apfelkuchens hatte bereits den Weg in unsere Mägen genommen.
Dazu hatte Bilbo noch einen würzigen Käse und etwas Weißbrot auf den Tisch gepackt.
Ein hartgekochtes Ei, ein paar Scheiben Schinken, ein Töpfchen zähflüssigen
Honig, einen Rest Marmelade, ein paar Walnüsse, Haselnüsse, einen schrumpeligen
Apfel, kalten Fisch vom Vorabend und frisch aufgebrühten Kräutertee.
Der Apfel
amüsierte mich besonders. Ich hielt ihn am Stiel zwischen zwei Fingern und
Bilbo vor die Nase. „Was ist das denn?“ kicherte ich.
Bilbo zog
die Augenbrauen hoch und antwortete todernst: „Ein Apfel!“ Was für eine dumme
Frage aber auch!
Ich bog
mich vor Lachen. „Und wie konnte der lange genug bei einem Hobbit überleben, um
zu schrumpeln?!“
Bilbo
zuckte die Achseln. „Ich habe ihn gerade eben unterm Bett gefunden.“
Ah ja!
Ich hatte
mich noch nicht wieder gefaßt, da bemerkte ich irritiert, daß ich seine
Gegenwart spüren konnte, noch ehe sein Gewand mich leicht im Rücken streifte.
Er schlängelte sich zwischen mir und dem Gartenzaun hindurch, strebte den
freien Stuhl zu meiner Linken an und setzte sich schweigend.
„Galvorn,
ich...“ Mein schlechtes Gewissen erstickte jedes weitere Wort. Hier saß ich nun
schlemmend und lachend mit dem Hobbit, während mein Liebster auf mich gewartet
hatte!
Aber ich
suchte vergebens nach Anzeichen eines Vorwurfs in seinem Gesicht. Mit einem
Blick über den mit Essensvorräten, Büchern, losen Blättern und
Schreibwerkzeugen übersäten Tisch hatte er die Situation erfaßt. Er
verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem nachsichtigen
Lächeln zurück.
„Du hast
noch deine Reitkleidung an“, bemerkte er süffisant.
„Elli
hatte einen Einfall für ihr Buch!“ erklärte Bilbo bereitwillig, bevor ich etwas
sagen konnte. Ich lächelte unbeholfen.
„Das sehe
ich.“ Galvorn nahm mir den Apfel aus der Hand, betrachtete ihn kritisch und biß
hinein.
Mit einer
Bewegung, die unauffällig sein sollte, bedeckte ich die erste Seite meines
Buches mit dem Ärmel. Es lag in Galvorns Richtung und bei seinem Elbenblick...
„Du
möchtest nicht, daß ich es lese?“ Er klang ein wenig gekränkt. Zurecht.
„Später
einmal. Nicht jetzt. Es... wäre mir peinlich.“
„Warum könnte
es das wohl sein?“
„Weil...“
Nun, zum Beispiel darum, weil in diesem Buch genau stand, wie ich über ihn
dachte, was ich in seiner Nähe empfand und wie meine Hormone gleich bei unserer
ersten Begegnung verrückt gespielt hatten!
Galvorn
beugte sich zu mir herüber und hauchte mir ins Ohr: „Genau deshalb möchte ich
es gerne lesen!“
Mir wurde
heiß. Meine Wangen glühten. Hatte ich etwa laut gedacht?
„Du
solltest lernen, deine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Solange du dich mir
gegenüber öffnest, kann ich es gar nicht überhören.“
Oh Mist!
Lag das etwa an diesem Osanwe-kenta? Hatte ich seit seiner Berührung im
Nähzimmer sozusagen vergessen, die Tür zu schließen?
Galvorn
nickte, und ich versank beinahe im Boden!
„Aber
wie...?“ stammelte ich.
„Versuch
es!“ forderte er mich auf. „Du mußt es nur wollen.“
Hatte ich
tatsächlich gewollt, daß er mich
hört? Ich überlegte kurz und gestand mir ein: ja! Ich fühlte mich so sehr zu
ihm hingezogen, daß ich nur noch für ihn und in seiner Gegenwart leben wollte.
„Wieso
funktioniert das bei mir überhaupt?“ versuchte ich abzulenken. „Ich meine, ich
bin ein Mensch, nicht wahr?!“ Ich schloß jetzt bewußt den Gedanken daran, daß
das nur zur Hälfte stimmte, in meinem Kopf ein. Daß ich dabei die Augen unschön
verdrehte und bestimmt ziemlich dämlich aussah, ignorierte ich.
„Ich weiß
es nicht“, gestand Galvorn. „Vielleicht willst du es mir erklären?“ Sein Blick hatte etwas Lauerndes. Hatte Liriel
geplappert?
In diesem
Moment klopfte es an Bilbos Tür und Merry und Pippin erschienen im Zimmer. Sie
grüßten freundlich und sahen sich nach Gandalf um.
„Frodo
und Sam werden gleich hier sein“, informierten sie uns.
Das sah
mir gewaltig nach einer Besprechung aus! Mein Fluchtinstinkt meldete sich und ich
raffte nervös meine Blätter zusammen. Auch Galvorn beabsichtigte nicht, eine
Verabredung der Freunde zu stören – wenn auch aus anderen Gründen als ich.
Rücksichtsvoll entschuldigte er uns: „Wir werden uns zurückziehen.“
Mit einer
Verbeugung zu den Hobbits stand er auf und bot mir den Arm. Tolpatschig wie ich
war, verstand ich natürlich nicht sogleich, was ich damit sollte, und rappelte
mich – Papier und Buch ungeordnet in beiden Händen – umständlich alleine auf.
„Hast du
noch Hunger?“ Galvorn half mir, den Blätterwust zu ordnen, als wir ein paar
Schritte gegangen waren.
„Ich habe
nur ein kleines Stückchen Kuchen gegessen!“ verteidigte ich mich. „Den Apfel
hast du mir geklaut, und weiter bin ich nicht gekommen!“
Galvorn
schwieg, und mir kam der Gedanke, daß ich möglicherweise überreagiert hatte.
„Du hast
etwas zu essen besorgt?“ fragte ich kleinlaut.
„Das
hatte ich dir doch versprochen.“
War er
wirklich nicht das geringste Bißchen beleidigt? Ich betrachtete ihn zweifelnd
von unten herauf.
„Ich wollte
dich nicht hängen lassen...“, versuchte ich sicherheitshalber ihn zu
besänftigen – und sorgte mit meiner unmittelirdischen Ausdrucksweise für
Heiterkeit.
Wir
blödelten ein bißchen herum, aber natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis
Galvorn unser unterbrochenes Gespräch wieder aufgriff.
„Liriel
hat etwas angedeutet“, begann er. „Sie meinte, du solltest es mir selbst
sagen.“
„Was...
ähm... was hat sie denn angedeutet?“
„Wenn ich
sie richtig verstanden habe, hat es etwas mit deiner Frage zu tun.“
„Ah? –
Welcher Frage?“ stellte ich mich unwissend.
„Wieso es
bei dir funktioniert.“
Irgendwie
redeten wir beide um den heißen Brei herum. Unter anderen Umständen hätte mich
das vielleicht amüsiert. Jetzt aber fühlte ich mich unwohl. Dabei wäre das
eigentlich die Gelegenheit, ihm alles
zu beichten! Der Moment war wie geschaffen für ein solches Geständnis. Galvorn
hatte gerade bewiesen, wie nachsichtig er mit mir war, wir gingen Hand in Hand
über eine weiche Wiese – meine jetzt geordneten Notizen hatten samt Buch unter
meinem anderen Arm Platz gefunden – die Sonne schien freundlich vom Himmel, die
Vöglein sangen und ausnahmsweise tauchte Aiwendil nicht auf, um mir
irgendwelche guten Ratschläge zu erteilen.
Dennoch
zögerte ich. Ich weiß nicht wieso. Aber plötzlich hatte ich das dringende
Gefühl, ich dürfte Galvorn nichts von meiner Unsterblichkeit erzählen. Nicht,
bevor die Gefährten nicht aufgebrochen waren. Völlig irrationalerweise glaubte
ich eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen zu spüren. So, als würde mit
dem Aufbruch der Gemeinschaft für uns eine Wende eintreten.
Wahrscheinlicher
hatte ich einfach Angst davor, mich zu offenbaren und suchte durch eine
unsinnige Ausrede, diesen Moment so weit wie möglich von mir zu schieben.
Also beschloß
ich, ein weiteres Mal Zuflucht zu Radagasts Verbot zu nehmen.
Als die
Stille zwischen uns drückender wurde, als ich es ertragen konnte, flüsterte
ich, denn meine Stimme versagte mir den Dienst: „Ich darf es dir nicht sagen.
Radagast hat es mir verboten.“
Galvorn
schnaufte aus. Jetzt hatte ich es doch noch geschafft, ihn wütend zu machen!
„Aber
Liriel hast du es erzählt!“
„Nicht
alles...“ verteidigte ich mich kleinlaut.
„Und
Adar!“
„Das war
vor Radagasts Verbot.“
Galvorn
wandte sich ab und ließ meine Hand dabei los.
„Galvorn
ich...“ Ehe ich weitersprechen konnte, drehte er sich schwungvoll zu mir um.
Seine Augen funkelten.
„Woher
wußtest du von Gollums Flucht?“ wechselte er unerwartet das Thema.
Mein
Unterkiefer senkte sich, doch ich gab keinen Laut von mir. Was hätte ich sagen
sollten? Ich sah ihn nur hilflos flehend an. >Vertrau mir!< bat ich
stumm.
„Das
würde ich gerne.“
Der
Schmerz in Galvorns Stimme stach mir mitten ins Herz. Ich ließ den Kopf hängen
und schloß die Augen. Ich zögerte nicht länger und nahm all meinen Mut
zusammen:
„Galvorn,
ich bin nicht sterblich!“ gestand ich endlich und spürte, wie eine Last von mir
genommen wurde.
Galvorn
hob mein Kinn sanft und als ich die Augen öffnete, traf mich sein zärtlicher
Blick.
„Tu das
nicht!“ tadelte er gutmütig.
„Was?“
„Mein
Herz gehört dir bereits. Du brauchst nicht so etwas Unsinniges zu sagen.“
„Aber es
ist die Wahrheit!“
„Die
gleiche Wahrheit, die du Liriel und Adar erzählt hast?“
„Ja.
Aber...“
„Es ist
gut.“
Wie? Aber
Gollums Flucht!
Ich
starrte Galvorn an und konnte nicht fassen, daß er nicht weiter in mich drang,
um das zu erfahren, was er für wahr halten konnte. Denn daß er mir die
Unsterblichkeit nicht abnahm, war klar aus seinem Tonfall herauszuhören
gewesen.
Aber wenn
er mir die schon nicht glaubte, würde er den Rest der Geschichte für eine noch
größere Lüge halten!
„Übrigens
wußte Gandalf ebenfalls von Gollums Flucht.“ Galvorn reichte mir seinen Arm und
wir nahmen den unterbrochenen Spaziergang wieder auf. „Er hat es von Gwaihir
erfahren.“
Jetzt
ging mir ein kleiner Kronleuchter auf! Glaubte Galvorn plötzlich an Aiwendils
Geschichte? Vermutete er meine Andersartigkeit alleine in meiner Begabung für
ausgefallene Sprachen?
„Wer ist
Gwaihir?“ fiel mir noch gerade rechtzeitig zu fragen ein.
„Der
>Herr der Winde< ist einer der großen Adler des Nebelgebirges.“
Aha. Ich
lächelte und schmiegte mich an Galvorn, der mir fürs Erste alles vergeben
hatte. Im Plauderton erzählte er von der Ratsversammlung am Vormittag – selbstverständlich
nur von den Teilen, die mir als Außenstehende zu wissen zustand.
„Tatsächlich
schien Aragorn der einzige von allen zu sein, der noch nicht von Gollums Flucht
erfahren hatte. Man stelle sich das vor! Seit fünf Tagen weilt er in Bruchtal
und offensichtlich hat es niemand für nötig befunden, ihn darüber zu
unterrichten!“ amüsierte er sich.
Ich
grinste spöttelnd: „Vielleicht hat sich auch niemand getraut ihm zu erzählen,
daß das Wesen, das er mit solcher Mühe aufgespürt, gefangen und unter Entbehrungen
nach Düsterwald gebracht hat, geflohen ist.“
Galvorn
lachte laut auf. „Hättest du dich das getraut?!“
- „Nein!“
stimmte ich ins Lachen ein. Ich rief mir das strenge Gesicht des wortkargen
Waldläufers ins Gedächtnis. „Nein, lieber nicht!“
~*~