Die
nächsten Wochen war ich ganz schön damit beschäftigt Bilbo davon abzulenken,
Frodos altes Schwert zur Schmiede zu bringen. Warum ich das tat, wußte ich
selbst nicht genau zu sagen, aber da ich es mir nun einmal in den Kopf gesetzt
hatte, ließ ich nicht locker. Dabei erwies es sich als äußerst nützlich, daß
Bilbo auf seine alten Tage gerne und viel schlief – Gelegenheiten, zu denen ich
ihn ruhig einmal aus den Augen lassen und mich anderen Aufgaben widmen konnte. Ebenfalls
vorteilhaft waren seine leichte Vergeßlichkeit und die angeborene Wißbegierde.
Ich weiß, es klingt verrückt, aber seit dem Nachmittag nach Elronds Rat
unterrichtete ich ihn in Deutsch!
Außerdem waren
da ja auch noch seine Freunde aus dem Auenland, die ihn regelmäßig auf seinem
Zimmer besuchten, oder mit denen er sich am Abend in der Halle des Feuers traf.
Jede
Menge Möglichkeiten für Bilbo also, nicht an Frodos Schwert zu denken. Dennoch
erwischte ich ihn noch ein paarmal, wie er mit dem schmalen Bündel unterm Arm
geklemmt, sich auf den Weg machen wollte.
Einmal,
als es mir gerade wieder mit Mühe gelungen war, seine Gedanken in eine andere
Richtung zu bringen, bemerkte ich unter seinem Bett eine hölzerne Kiste. Ohne
bestimmten Grund fragte ich ihn danach.
„Eine
Kiste voller Erinnerungen...“ Bilbo lächelte versonnen. „Ich habe dort alles
hinein gesteckt, was ich aus meinem alten Leben mit nach Bruchtal gebracht
habe.“
„Wie zum
Beispiel?“ Es regte sich ein Verdacht in mir. Unruhig rutschte ich auf dem
Stuhl und zwang mich gleichzeitig zu Gelassenheit und Geduld. Um mich zu
beschäftigen pflückte ich ein paar Weintrauben aus der gläsernen Schale auf dem
runden Tisch zwischen uns.
Es war
schon später am Abend – meine Ablenkungsbemühungen hatten einige Zeit in
Anspruch genommen, und inzwischen war wohl kein Mensch oder Elb mehr in der
Schmiede. Draußen hatte ein leichter Regen eingesetzt und wir saßen in Bilbos
Zimmer, unterhielten uns über nichts Bestimmtes und waren zufrieden, den Tag
bei einem aromatischen Pfeifchen ausklingen zu lassen.
„Na, zum
Beispiel...“ Bilbo verstummte und zog die Stirn kraus. Entweder wußte er es
selbst nicht mehr so genau, oder es fiel ihm gerade wieder etwas ein. Er zog
ein paarmal abwesend an seiner Pfeife und starrte auf die Kiste. Dann legte er
sein Rauchwerkzeug beiseite, stand auf und zog das schwere Ding unterm Bett
hervor.
Zwei
eiserne Riegel schnappten auf, dann hob Bilbo den Deckel an. Neugierig reckte
ich den Hals. Auf den ersten Blick konnte ich keine Einzelheiten erkennen, denn
jedes Teil des Inhaltes war in ein Tuch oder ein Stück Leder gewickelt.
Nachdenklich
kniete Bilbo vor seiner Schatztruhe und strich mit der Hand andächtig über ein
längliches Etwas. Ich hielt den Atem an! – Stich! Das mußte Stich sein! Form und Größe stimmten. Ich biß mir auf die
Zunge.
>Nichts
sagen, Elli! Halt einfach die Klappe!< redete ich mir ein. Immer wieder, wie
ein Tonband in einer Endlosschleife.
Dann
entdeckte ich ein in Lumpen gewickeltes Päckchen.
„Was ist
denn das da?“ unterbrach ich meine Konzentration.
„Das? -
Oh!“ hauchte Bilbo, und sein freudiger Gesichtsausdruck verriet mir zweierlei:
Erstens, daß er sich erinnerte, zweitens, daß ihm eine Verwendung für den Inhalt
eingefallen war.
„Das ist
genau das Richtige für Frodo!“ Vor Aufregung zitternd nahm er das Paket hervor
und wickelte es aus. Mir fiel auf, daß das Bündel recht schwer für seine Größe
zu sein schien. Nachdem er mehrere Lagen alter Lappen entfernt hatte, hielt er
triumphierend ein glitzerndes, kleines Panzerhemd in die Höhe!
Jetzt
hielt mich nichts mehr auf meinem Platz. Ich rutschte vom Stuhl herunter und
kniete mich neben Bilbo.
„Das ist...
was ist das?“ Staunend betrachtete ich das Mithril-Hemd, das ich aus den
Büchern und aus den Filmen kannte, und das aller Beschreibungen spottete. Es
glänzte wie Silber, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Weiße Edelsteine
schmückten es und als ich es andächtig berührte, war es so weich wie Leinen,
aber kalt und hart wie Stahl!
„Hübsch,
das Ding, nicht wahr? Und nützlich. Es ist mein Zwergen-Panzerhemd, das Thorin
mir geschenkt hat. Ich habe es von Michelbinge zurückgeholt, ehe ich
aufbrach.“*
„Und das
hier ist etwas, das er ebenfalls brauchen kann!“ fuhr er fort, ehe ich etwas
erwidern konnte, und zog aus dem Leinenstoff ein kleines Schwert hervor, das in
einer schäbigen Lederscheide steckte. Begeisterung hatte den alten Hobbit
ergriffen. „Zum Kuckuck mit dem kaputten Schwert. Jetzt ist es ohnehin zu spät,
es noch zur Schmiede zu bringen, denn sie brechen morgen bereits auf!“
Morgen?
Morgen schon? Ich schluckte. Es war ein offenes Geheimnis in Bruchtal, daß
Frodo mit acht Gefährten den Ring nach Mordor bringen würde.
„Ja, das
ist genau das Richtige für den guten Jungen!“ wiederholte Bilbo entzückt.
Ich
antwortete nicht auf diesen glänzenden Einfall, unterdrückte ein zufriedenes
Grinsen und ging, um mich zu sammeln ans Fenster. Es war kalt geworden und als
ich genauer hinsah stellte ich fest, daß der Nieselregen allmählich in wäßrige
Schneeflöckchen überging. War Bruchtal weiß verschneit, wenn die Gefährten
aufbrechen würden? Ich versuchte mich zu erinnern, trotz aller bisher
mißlungenen Anläufe der Meinung, es könnte mir ausnahmsweise gelingen. Es
klappte nicht. Natürlich.
Als ich
mich wieder umdrehte, packte Bilbo gerade Frodos zerbrochenes Schwert mit in
die Kiste und schob sie zurück unters Bett.
„Großartig!“
freute er sich, als er aufstand und rieb die Handflächen enthusiastisch
aneinander. „Möchtest du noch ein Stück Käse? Es müßte noch etwas davon im
Nachttisch sein, wenn Merry und Pippin ihn nicht stibitzt haben – die beiden
haben einen Riecher für alles Eßbare! Und riechen tut er wahrhaftig streng
genug.“ Bilbo schnupperte. „Doch ja, er ist noch da!“
Ich
schmunzelte. Es blieb nicht bei dem Stückchen Käse. Bilbo wuselte durchs
Zimmer, entdeckte eine angebrochene Flasche Rotwein und einen kleinen Rest
Brot, schimpfte über den verschwundenen Schinken und war sich ganz sicher, daß
die Schüssel auf dem obersten Regal noch randvoll mit Gebäck gewesen war, bevor
Merry und Pippin am Nachmittag zu einem kurzen >Hallo< hereingeschaut
hatten.
Wir
ließen uns gemütlich am Tisch nieder, als es dreimal dumpf an der Tür pochte.
Es folgte ein Klirren wie von Geschirr, das auf einem Tablett unsanft
durcheinandergerüttelt wird, dann ein unterdrücktes Schimpfen. Als nächstes
polterte ein Ellenbogen gegen den Türknauf – wohl im Versuch, diesen
herabzudrücken. (Bruchtal’sche Zimmertüren funktionieren ganz ähnlich wie
unsere, nur ist die Mechanik nicht aus Metall sondern Holz.) Es klappte aber
nicht und ein weiteres zorniges Wort folgte.
Ich stand
auf, um dem späten Gast behilflich zu sein. Als ich die Tür öffnete, kam mir
eine kleine Gestalt mitsamt ihrem überschwer beladenen Essenstablett
entgegengefallen. Die Last prallte oberhalb der Knie gegen meine Beine.
Geistesgegenwärtig hielt ich mich an Tür und –rahmen fest, um nicht hintenüber
zu fallen. Frodo schnaufte erschrocken aus, und wir sahen beide hilflos einer
Tasse hinterher, die den Halt verloren hatte, über den Rand kippte und am Boden
zerschlug.
„Aber
Frodo, Junge! Was machst du denn?“ tadelte Bilbo gutmütig. Er kam gerade
rechtzeitig, um ein noch schlimmeres Desaster zu verhindern und packte die
bedrohlich schwankende Weinflasche am Hals. „Oh! Eine Flasche „Alter Wingert“!
Prächtig! Ganz prächtig!“ jubelte er und wandte sich bereits ab, um nach einem
Korkenzieher zu suchen, während Frodo und ich uns noch verdattert anstarrten.
„Aber
komm doch herein Frodo! Bleib nicht dort in der Tür stehen!“ Bilbo winkte
geschäftig mit der freien Hand.
Endlich
hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden und trat zur Seite, um dem Hobbit
Platz zu machen. Frodo schob seine köstliche Last zu den anderen Speisen auf
dem Tisch und machte erst einmal Inventur.
„Es fehlt
jetzt nur noch eine Tasse – falls Merry und Pippin noch hereinschauen. Oder Gandalf...
aber der war eben noch mit Aragorn in der Bibliothek. Ich glaube, sie haben
noch viel zu besprechen. Erwartet ihr sonst noch jemanden?“
„Ach, wer
immer als letztes kommt, muß sich selber eine Tasse holen!“ lachte ich,
amüsiert über soviel Umsicht. Ich hatte die größten Scherben vorsichtig
aufgehoben, sah mich nach einer Kehr- und Schaufelgarnitur um, und dachte
darüber nach, wie dieser praktische Haushaltshelfer auf Sindarin heißt und ob
ich hier überhaupt schon etwas in der Art gesehen hatte.
„Das ist
aber nicht besonders gastfreundlich“, wandte Frodo ein und betrachtete
interessiert mein Tun.
„Nein,
aber praktisch!“
Irgend
etwas Brauchbares mußte doch zu finden sein. Vielleicht im Schrank? In den
Schubladen des Nachttisches eher nicht. Aber in der großen Kleidertruhe
vielleicht? Hmm...! Unentschlossen blickte ich von einem Möbelstück zum
nächsten und wieder zurück auf den Scherbenhaufen.
„Suchst
du das hier?“ Frodo grinste und winkte mit einem kleinen Handfeger.
„Äh...
nö. Ich warte darauf, daß die Scherben Füße kriegen und von selbst in den Müll
wandern!“ frotzelte ich.
Der
Hobbit lachte, hielt mir die dazugehörige Schaufel hin und begann mit dem
Zusammenkehren. Ich ging ihm dabei zur Hand. Bilbo hatte inzwischen die Flasche
entkorkt, und kurz darauf saßen wir gut gelaunt zu dritt um den runden Tisch.
Es war
wirklich alles an Leckereien vorhanden, was man sich wünschen konnte. Außer dem
Wein hatte Frodo noch Tee aufgebrüht, und sogar frisch gepreßten Obstsaft zur
Auswahl mitgebracht. Onkel und Neffe schlossen bereits fleißig Wetten ab, wie
lange es dauern würde, bis Merry und Pippin ihre Nasen zur Tür hereinstrecken
würden.
Ich hatte
ein Glas Rotwein vor mir stehen und zündete mein verlöschtes Pfeifchen wieder
an, während ich den beiden schmunzelnd zuhörte. Heute wollte ich den Abend
genießen. Es war ungefährlich zu bleiben, da war ich mir sicher. Selbst wenn
Tolkien später einmal von diesem Zusammensein erzählen würde, würde er mich
bestimmt nicht erwähnen. Wozu sollte er bitteschön am letzten Abend in Bruchtal
einen neuen Charakter einführen? Nicht einen, der später von Bedeutung sein
würde, sondern einen, der im ganzen Buch nie wieder vorkam! Das wäre völlig
überflüssig. Sowas tut kein guter Autor!
Oder
doch? Ich erinnerte mich vage, daß Tolkien auch in anderer Hinsicht gegen die
gängigen Schriftsteller-Regeln verstoßen hatte...
>Elli,
du bist inkonsequent!< maulte auch gleich mein inneres Ich. >Frodos Feier
bist du aus genau diesem Grund ferngeblieben!<
Ich
zuckte die Achseln und wischte mit einer Hand über die Schulter, als würde ich
eine lästige Schmeißfliege verscheuchen. Der Abend versprach einfach viel zu
gemütlich zu werden, als daß ich es über mich gebracht hätte, jetzt zu gehen.
Wählerisch suchte ich einen Keks aus und knabberte genüßlich daran. Ja, ganz
eindeutig: Viel zu gemütlich!
Wir
hatten uns gerade zugeprostet und der helle Klang von Kristallglas lag noch
leise in der Luft, als es forsch an die Tür klopfte. Frodo verschluckte sich
lachend. Bilbo füllte ganz selbstverständlich zwei zusätzliche Gläser mit der
rubinroten Flüssigkeit. Merry und Pippin traten unaufgefordert ein und ließen
sich breitgrinsend in der Runde nieder.
„Ah, wie
ich sehe, habt ihr uns bereits erwartet!“ Merry schnappte sich ein Glas und
schnupperte genußvoll am Inhalt.
Pippin
tat es ihm gleich. „Joo... ganz ordentliches Tröpfchen!“ erklärte er mit
Kennerblick, nachdem er beabsichtigt auffallend unauffällig die Beschriftung
der Flasche studiert hatte.
Seine komödiantische
Einlage wurde mit belustigtem Glucksen belohnt.
Aufs Neue
stießen wir mit den Weingläsern an, und wieder wurden wir von einem Pochen an
der Tür unterbrochen. Es war Sam, der artig den Zuruf zum Eintreten abwartete,
und den wir fröhlich willkommen hießen. Wegen des Mangels an Stühlen, bot Bilbo
ihm seine Schatztruhe als Sitzplatz an, und gab mir verstohlen einen Wink,
nicht zu verraten, was er darin für seinen Neffen verborgen hielt. Ich nickte
verstehend. Natürlich wollte er es Frodo selbst und im geeigneten Augenblick
mitteilen.
Auch für
Sam wurde ein Glas mit Wein gefüllt, obwohl er erklärte, er wolle lieber eine
Tasse Tee trinken. Wir waren uns einig, daß dieser sich nicht zum Zuprosten
eignete. Sam ergab sich in sein Schicksal, ging danach aber zu den
alkoholfreien Getränken über.
Diesmal
dauerte es etwas länger, bis wir durch einen neuen Besucher unterbrochen
wurden. Die erste Flasche Wein war bereits geleert und Pippin zog - ich weiß
nicht, wie sie dort hinein gepaßt hatte - aus seiner Hosentasche eine neue
hervor. Der junge Hobbit grinste mich frech an, als ich entsprechend irritiert
dreinsah und verlangte krähend nach einem Korkenzieher.
Galvorn
traf uns also schon ziemlich angeheitert an, was ihn aber nicht davon abhielt,
sich mit einem, zugegebenermaßen leicht süffisanten Grinsen zu uns zu gesellen.
Gerne hätte ich ihm meinem Stuhl angeboten, um es mir dann auf seinem Schoß
gemütlich zu machen, aber der nüchterne Teil meines Bewußtseins verdrängte
diesen unschicklichen Gedanken.
Statt
dessen holte Frodo aus einer Zimmerecke einen schmalen Hocker mit recht kurzen
Beinen, der für den hochgewachsenen Elben zwar eigentlich viel zu niedrig war,
ihn aber gerade deshalb auf gleiche Augenhöhe mit den Hobbits brachte. Ich kam
mir wie ein Riese zwischen lauter Zwergen vor, weil ich nun als einzige über
die anderen herausragte. Natürlich fiel die ein oder andere witzige Bemerkung
darüber, die ich bereitwillig über mich ergehen ließ.
„Kennt
ihr den schon...?“ Man konnte nicht mehr recht unterscheiden, ob Pippin sich am
Weinglas festhielt oder umgekehrt. Die Wangen des jungen Hobbits waren einen
Hauch gerötet als er erwartungsvoll diese Frage stellte, und seine Augen
glänzten vor Begeisterung. Er hatte ein Talent zum Witzeerzählen! Noch bevor
wir wußten, was uns erwartete, und ob wir die Frage bejahen oder verneinen
mußten, strebten unsere Mundwinkel in freudiger Erwartung zu den Ohrläppchen.
Ganz egal ob bekannt oder nicht, das Zuhören würde sich lohnen!
Pippin
machte eine gekonnte Pause, bis er ganz sicher war, daß er die ungeteilte
Aufmerksamkeit genoß. Völlig überflüssig. Eigentlich. Wir hingen alle an seinen
Lippen. Aber dramaturgisch äußerst geschickt.
„Kommt
ein Hobbit ins Tänzelnde Pony und bestellt drei Bier. Der Wirt fragt, warum er
gleich drei bestelle...“
Merry,
Frodo und Sam brachen in Gelächter aus. Bilbo verdrehte die Augen und murmelte
ein „Breeländer!“.
Ich
blickte Galvorn verständnislos an. War es normal, daß ein Hobbit gleich drei
Bier auf einmal bestellte? Oder wie sollte ich diesen Heiterkeitsausbruch
verstehen? Galvorn formte ein „nicht mehr nüchtern“ mit den Lippen und grinste.
Pippin
wedelte mit einer Hand zum Zeichen für Ruhe, und daß er weitererzählen wolle.
„Der
Hobbit erklärt ihm, er habe einen Bruder im Westviertel und einen in
Hobbington, und für die trinke er immer mit.“
Ein neuer
Heiterkeitsausbruch ließ den Tisch erbeben.
„So geht
es viele Male. Der Hobbit bestellt drei Bier, trinkt sie und geht wieder.“
Kein Lachen.
Das war völlig normal und selbstverständlich.
Galvorn
zwinkerte mir zu.
Ich
unterdrückte ein Kichern.
„Eines
Tages kommt der Hobbit und bestellt nur zwei Bier.“ Pippin erhob bei den
letzten beiden Worten Stimme und Zeigefinger.
Bedrücktes
Schweigen und erwartungsvolle Blicke.
„Der Wirt
fragt mitfühlend: Oh! Ist etwa einer deiner Brüder gestorben? - Nein, nein,
antwortet der Mann.“ Pippin setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und immitierte
die beiden handelnden Personen grandios. „Nein, aber ich trinke nicht mehr.“
Schallendes
Gelächter dankte dem gelungenen Vortrag. Ich klatschte in die Hände. Sogar
Galvorn hatte seine Fassung für den Moment beiseite gelegt und lachte
ungezwungen. Alleine für diesen Anblick hatte sich der Abend gelohnt!
Es war
schon spät, als Galvorn daran erinnerte, daß ein Teil unserer Gemeinschaft
morgen einen anstrengenden Tag vor sich hatte. Trotz der ernsten Botschaft
schmälerte dies die gute Laune nicht. Wohl aber waren alle Anwesenden sich des
Ernstes bewußt, und so hoben wir schweren Herzens die Gesellschaft auf.
Von den
aufgetischten Leckereien war fast nichts mehr übrig. Wir räumten das Geschirr
zusammen, und in alter Tradition nahm ich das Tablett an mich, um es zurück in
die Küche zu bringen.
Galvorn
begleitete mich auf dem Weg dorthin. Als wir an der Bibliothek vorbei kamen,
drangen durch den Spalt der angelehnten Türe zwei vertraute Stimmen, die in
ruhigem Tonfall über etwas berieten. Unwillkürlich hielt ich inne und verweilte
im Flur. Galvorn sah mich stumm an. Es gehörte sich nun wirklich nicht, an
einer Tür zu lauschen, auch wenn sie einen kleinen Spalt weit offen stand.
Diesen Gedanken verriet mir sein Blick. Aber es stand auch eine Frage darin,
die ich im Augenblick nicht recht zuordnen konnte. Angestrengt horchte ich auf
die beiden Stimmen im Inneren.
„Es gibt
einen kürzeren Weg“, hörte ich Gandalf ungeduldig sagen, „Du weißt, von welchem
ich rede.“
Ich hielt
die Luft an. Beinahe hätte ich laut gesagt: „Ja, das weiß ich!“
Galvorn
beobachtete mich eindringlich.
„Du
weißt, welche Gefahr er birgt.“ Aragorn klang besorgt. Es war offenbar nicht
die erste Diskussion in dieser Angelegenheit.
--- „Ist
es in Bruchtal üblich, an offenen Türen zu lauschen?!“
Eine befehlsgewohnte
Stimme sprach diese Worte laut und vorwurfsvoll.
Vor
Schreck ließ ich beinahe das Tablett fallen.
Jemand
war unbemerkt hinter mich getreten und als ich mich, wie vom Blitz getroffen,
umdrehte, stand ein hochgewachsener, breitschultriger Mann vor mir. Er war
dunkelhaarig, trug einen mit Pelz besetzten Mantel und hohe Stiefel. Sein
Kragen war aus Silber und einziger weißer Stein glänzte darin. An einem Riemen
trug er ein großes Horn.
Diese
Beobachtungen machte ich freilich erst später. Jetzt bemerkte ich nur die
grauen Augen, die stolz und stechend auf mich herabsahen.
„Ist es
in Gondor üblich, fremde Damen zu brüskieren?“ Galvorn war beschützend an meine
Seite getreten. Des Elben Stimme klang melodischer als der schwere, volle
Dialekt des Menschen, aber seine Worte waren nicht weniger akzentuiert gesetzt.
Seiner Körpersprache fehlte es nicht an Arroganz.
„Ähm...!“
wagte ich einzuwenden. Die wollten sich doch jetzt nicht wegen mir streiten,
oder? Ich begann innerlich so zu zittern, daß das Geschirr auf dem Tablett
leise klirrte. Beklommen zog ich mich ein paar Schritte zurück und stellte
meine Last auf einem Fenstersims ab.
Boromir -
niemand sonst konnte es sein - betrachtete mich erstaunt. Er sagte nichts, aber
es war sonnenklar, daß er mich nicht als Frau erkannt hatte. Ich trug meine
bequemen Hosen und Liriels Bluse. Meinen verworrenen Zopf hatte ich im Laufe
des Abends gelöst und die Haare hingen mir offen über den Rücken. Boromir mußte
mich von hinten im Zwielicht des Ganges für einen jungen Elben gehalten haben.
Das
ärgerte Galvorn sichtlich. Zornig funkelte er seinen Gegner an.
Daß ich
hinzutrat und ihn beschwichtigend am Arm zupfte, hatte nur eine gegenteilige
Wirkung, und obwohl Boromir seine Worte bereits halb und halb zu bereuen
begonnen hatte, ballte er beide Hände zu Fäusten, als er dem unversöhnlichen
Elben in die Augen sah.
>Komm,
sag was, Elli!< zankte ich mit mir.
Aber mir
fiel nichts Angemessenes ein. Wie immer mangelte es mir an Schlagfertigkeit.
Und so rutschte mir nur ein resigniertes „Männer!“ über die Lippen. Ich
verdrehte die Augen.
Boromir
und Galvorn zogen gleichzeitig die Luft scharf ein. Wie war das nochmal mit den
beiden Hunden, in deren Streit man sich nicht einmischen soll?!
Ich
gluckste amüsiert. Der fleißige Weingenuß hatte seine Spuren hinterlassen. Ich
sah, wie die Männer sich mein eigenartiges Verhalten zu erklären suchten und
ihr eigenes Handeln nicht bestimmen konnten... da war es um den Rest meiner
Beherrschung geschehen, und ich fing laut und herzlich zu lachen an.
„Nein, es
ist nicht üblich, weder in Bruchtal noch in Gondor. Keines von beidem!“
kicherte ich lustig. Bevor Galvorn sich in seiner Ehre gekränkt fühlen konnte, hakte
ich mich bei ihm ein und schlug vor: „In Anbetracht der Tatsache, daß ich wenig
damenhaft gekleidet bin, wollen wir Boromir verzeihen, was meinst du?“
In diesem
Moment erschienen Aragorn und Gandalf, vom Lärm angelockt, in der Tür.
„Sie
sieht nicht nur nicht damenhaft aus, sie benimmt sich auch nicht so“, scherzte
der Waldläufer mit einem Augenzwinkern und einem leichten, aber
unmißverständlichen Tadel auf meine Lauschaktivitäten, die ihm aus meinen
eigenen Erzählungen in geselliger Runde bekannt waren.
Es lag
etwas Achtungsgebietendes in seinem Auftreten, das sein Ziel nicht verfehlte.
Solche Worte aus diesem Mund waren keine Frechheit - und konnten auch nicht so
verstanden werden. Von Niemandem!
Ich
hustete gespielt und grinste Aragorn - unverkennbar leicht beschwippst - an.
Galvorn
betrachtete mich mit hochgezogener Augenbraue von der Seite und kämpfte tapfer
gegen ein amüsiertes Lachen.
Boromir
war weniger umständlich, hob den Kopf in den Nacken und lachte dreimal laut und
markant auf. Der Mensch gefiel mir. Er hatte Sinn für Humor! Ich schenkte ihm
ein noch breiteres Grinsen, das von ihm gut gelaunt erwidert wurde.
„Wenn der
Herr Elb nichts dagegen hat, möchte ich das Angebot der jungen Dame gerne
annehmen. Ich wollte Euch wirklich nicht beleidigen...!“ Er verbeugte sich nur
leicht, wie ein vornehmer Herr, der es nicht gewohnt ist, seinen Rücken vor
jemandem zu krümmen. Dies wenige aber tat er sehr gewählt und höflich.
Das
letzte Wort hatte er zu einer Frage gezogen.
„Elli“,
antwortete ich knapp.
„Elanor“,
korrigierte Galvorn. Hörte ich da einen Hauch Eifersucht?
Ich
kicherte.
Galvorn
schüttelte den Kopf.
Nein. Ich
hatte mich geirrt. Es war nicht Eifersucht. Mein Geliebter war bloß der
Meinung, daß ich ein klitzekleines Wenig zu viel Wein getrunken hatte.
Galvorn
und Boromir reichten sich die Hände zur Versöhnung.
„Woher
kennt Ihr meinen Namen?“ wunderte sich Boromir, nachdem dies erledigt war.
„Oh...
ich habe von Euch gehört.“ Ich zuckte nachlässig die Achseln und
beglückwünschte mich zu dieser prompten Antwort.
Das war
nicht einmal gelogen.
Und es
schmeichelte ihm ganz offensichtlich.
Männer...!
Wußtet
ihr, daß man es ab einem bestimmten Pensum an Alkohol im Blut unterlassen sollte,
höhnisch die Augen zu verdrehen? Mein Gleichgewichtssinn geriet ins Schwanken
und ich stürzte nur deshalb nicht, weil ich mich mit einem Arm bei Galvorn
eingehakt hatte, mit der freien Hand ebenfalls festen Halt bei ihm fand und er
mir außerdem mit der zweiten Hand stützend zu Hilfe kam.
Ich
schnaufte undamenhaft aus. Für einen Moment drehten sich die anwesenden
Personen um mich herum, dann war alles wieder vorbei.
„Es ist
schon spät. Bitte entschuldigt uns. Sie hatte einen anstrengenden Tag“, versuchte
Galvorn meinen Zustand schön zu reden.
Den
scharfen Augen des Waldläufers aber, waren die leeren Weinflaschen auf dem
Essenstablett nicht entgangen. „Das sehe ich“, spöttelte Aragorn deshalb, und
auch Boromir sowie Gandalf waren genau darüber im Bilde, welche Anstrengung für
mein Unwohlsein verantwortlich war.
„So so“,
kommentierte der Zauberer die Situation.
Boromir
lachte.
Ich
murmelte noch ein zusammenhangloses: „Manchmal ist Stolz fehl am Platz und man
sollte den Mut haben, Fehler einzugestehen“, dann entführte Galvorn mich. Er
nahm das Tablett auf, das er mir nicht mehr anvertrauen mochte, und balancierte
es mit einer Hand, während ich schwer an seinem Arm hing.
Wir
machten einen Umweg über die Küche, wo er das Geschirr abstellte. Der Raum war
ungewohnt still und verlassen. Der dezente Duft von gebratenem Fleisch und
würziger Sauce lag noch in der Luft und ein kühler, frischer Hauch drang durch
den kleinen Lüftungsschacht in der Decke herein. Ich atmete tief und schloß die
Augen. Ob die Küche im Waldelbenreich ähnlich eingerichtet war? Ich war nie
dort gewesen. Hatte nie Kekse gemopst oder heimlich Geschirr zurückgebracht. Es
gab vieles, was mir hier vertrauter war als dort. Und dennoch hatte ich mich
auf eine andere Art im Düsterwald sehr wohl gefühlt. Es war so, wie Sam es
einmal gesagt hatte - oder sagen würde? - Es war beides sehr elbisch.
„Woran
denkst du?“
Ich
schreckte aus meinem Tagtraum auf und blickte Galvorn desorientiert an.
„An das
Waldelbenreich. An die Kinder... und an dich.“ Die letzten drei Worte kamen nur
als Hauch über meine Lippen. Ich spürte, wie meine Wangen sich verfärbten, und
bevor ich anfangen konnten herumzuzappeln wie ein Idiot, legte ich meine Arme
um seine Mitte und schmiegte mich wohlig an ihn.
„Komm,
ich geleite dich zu deinem Zimmer.“ Ich hörte seiner Stimme ein zufriedenes
Schmunzeln an und spürte einen zärtlichen Kuß auf meiner Stirn, bevor er sich
sanft aus meiner Klammerung löste und mich auf den richtigen Weg brachte. Ich
ließ es geschehen, viel zu müde, um mich gegen seinen Entschluß zu wehren.
Zu meinem
Bedauern nahm Galvorn seine Worte sehr genau. Bei einem Ehrenmann bedeutet „zu
deinem Zimmer“ eben nicht „in“. Er verabschiedete mich an der Tür und wünschte
mir eine angenehme Nachtruhe.
Ich seufzte.
In Momenten wie diesen wünschte ich mir ihn ein bißchen weniger... zivilisiert.
Trotz
aller Müdigkeit gelang es mir nicht einzuschlafen. Nach einigen zähen Minuten
stand ich auf, zündete eine Kerze an, setze mich an den Frisiertisch, der mir
gelegentlich zum Schreiben diente, zog den Korken aus dem Tintenfaß und tauchte
die Feder ein. Jedoch reichte meine Konzentration nur noch aus, mir ein paar
wenige Notizen über den heutigen Abend zu machen. Nachdem ich lange genug aufs
Papier gestarrt hatte, kam die Müdigkeit mit Nachdruck zurück. Ich packte alles
provisorisch beiseite und krabbelte zurück ins Bett. Sofort fiel ich in einen
unruhigen, von wirren Bildern aus den Verfilmungen, der Realität und
Zukunftsphantasien gemischten Traum.
__________
* siehe „Der Ring geht nach Süden“ – Die Gefährten
(z. T. wörtl. aus der Carroux-Übersetzung)
Der Witz stammt natürlich nicht von mir und dürfte
den meisten meiner werten Leser bekannt sein.
~*~