Nachdem auch Galadhion verschwunden war, fiel die
Anspannung, die spürbar seit Tindómerels Ankunft in der Luft gelegen hatte, vom
Rest der Gruppe ab. Selbst Gil-galad konnte sich eines erleichterten Seufzens
nicht erwehren. Hamfast kicherte vergnügt vor sich hin. Es amüsierte ihn
köstlich, daß der verliebte Elb sie alle an der Nase herumgeführt hatte.
Gemütlich schwenkte er seine Füße, mit denen er den Boden lange nicht erreichen
konnte, durch die Luft und stützte sich dabei mit den Händen an der Sitzfläche
des Stuhles ab.
Eine ganze Zeitlang herrschte tiefes Schweigen. Die
Anwesenden lauschten dem Gesang der Vögel und dem Summen der Bienen, die
geschäftig zwischen den Blüten der Dahlien, die den Rand des gepflegten
Kiesweges säumten, hin und her schwirrten. Schmetterlinge in bunter
Farbenpracht tanzten, angelockt vom süßen Duft des Tees, über dem Tisch und
ließen sich zutraulich darauf nieder, um an einigen verschütteten Tropfen zu
lecken oder die Krumen der Kekse zu naschen.
Erst als die Mittagssonne heißer herabschien und
die Tierchen sich in kühlere Gefilde zurückzogen, brach Elrond die eingekehrte
Stille und brachte endlich das vor, was ihm seit dem Studium der letzten Nacht
auf dem Herzen lag, auch wenn er nicht wirklich damit rechnete, daß sich seine
dunkle Ahnung bewahrheiten würde. Er stützte seine Ellenbogen bequem auf die
Tischplatte und wandte sich mit einem leisen Räuspern an den Hobbit.
„Sagt, Herr Hamfast, Ihr spracht von einem Wappen,
das in die Rückwand von Dringols Fuhrwerk gebeizt war, und woran Ihr zuerst
erkannt hattet, daß er den Beruf eines Schmiedes ausübt.“ Er wartete kurz, bis
der Kleine zustimmend genickt hatte. „Könnt Ihr Euch noch an dieses erinnern?
Wäre es Euch möglich eine recht genaue Zeichnung desselben anzufertigen?“
Der Hobbit überlegte angestrengt, wobei er sich
ausgiebig hinter seinem rechten Ohr kratzte. „Hmmm...“ Sein Hut klappte ihm vors
Gesicht, er schob ihn mit beiden Händen wieder in Position und hüpfte vom
Stuhl.
Forschend und ein wenig ärgerlich blickte der Hohe
König seinen Berater an. „Wozu soll das gut sein? Ich sagte dir bereits, daß
wir andere Sorgen haben, als uns um diesen eigenartigen Kerl zu kümmern. Selbst
wenn...“
Er wurde durch eine energische Handbewegung Elronds
unterbrochen, der gespannt auf das starrte, was Hamfast da mit einem Stöckchen
in den weichen, weißen Sand zwischen Fußweg und Dahlien malte. Gil-galad runzelte
unwillig die Stirn und zog die Luft scharf ein. Bisher hatte der junge Elb noch
nie gewagt, ihm den Mund zu verbieten. Er dachte ernsthaft darüber nach, ihn
vor den Gästen streng zurechtzuweisen, doch dieses respektlose Verhalten seines
Beraters war so ungewöhnlich, daß er beschloß, erst das Ergebnis seiner
Nachforschungen abzuwarten.
Elrond hielt den Atem an und verfolgte Hamfasts Tun
mit wachsender Ungeduld. Plötzlich blickte er ruckartig auf. Er kniete neben
dem kleinen Mann nieder und wies aufgeregt mit dem Finger auf ein Detail im
oberen Drittel der Zeichnung. „Seid Ihr Euch hier ganz sicher?“
Kritisch betrachtete Hamfast sein Werk. „Naja, ich
bin kein besonders talentierter Maler, wißt Ihr. Dieser Hammer hier“, er
deutete auf die entsprechende Stelle, „sieht nicht einmal wirklich nach einem
aus.“ Er lächelte entschuldigend. „Aber das sah er auf dem Original auch nicht.
Auf jeden Fall war die Spitze seltsam zweigeteilt. Ich glaube, es ging hier ein
wenig mehr... und irgendwie soo...“ Er besserte etwas aus. Elrond sprang auf,
jede Etikette vergessend, und eilte ins Haus.
Irritiert blickten die drei Zurückgebliebenen ihm
hinterher, dann erhob sich der Hohe König, entschuldigte sich kurz und höflich
bei seinen Gästen, und folgte Elrond so schnell es seine Würde zuließ.
Zurück blieben ein verdutzt dreinblickender Hobbit
und ein Elb, der ausnahmsweise auch nicht intelligenter wirkte.
Doch im Gegensatz zu seinem Gefährten hatte Hamfast
sich schnell wieder gefaßt. Sein Blick fiel auf die bisher kaum beachtete
Gebäckschale auf dem Tisch. Er schob seinen Hut zurecht, schnappte sich die
Schüssel und ließ sich damit gemütlich auf dem weichen Moospolster unter dem
Kirschbaum nieder. Kauend hob er den Kopf und blickte zu den reifen Früchten
hinauf. Dabei dachte er eingehend darüber nach, wie er sie am besten würde
erreichen können.
Taurfaron, der ihm diese Gedanken regelrecht von
den Augen ablesen konnte – wozu zugegebenermaßen nicht die schnelle
Auffassungsgabe eines Elben gehörte – schüttelte lachend den Kopf, raffte eine
Handvoll Kirschen zusammen und bot sie dem Kleinen an, während er sich mit
einem zufriedenen Seufzen neben ihm auf das Moos setzte, sich streckte und die
Beine behaglich übereinanderschlug.
„Sagt einmal, Herr Hamfast“, fragte der Elb einer
spontanen Eingebung folgend, legte die Hände hinter den Kopf, welchen er gegen
den Baumstamm lehnte, und beobachtete ein paar kleine Schönwetterwolken am
azurblauen Himmel. „dieser Dringol... behauptete er von sich selbst ein Mensch
zu sein?“
„Hm...“ Der Hobbit sah seinen Gefährten erstaunt
an. „Eigentlich nicht... Aber er sagte, daß er kein Elb ist, und das ist doch
wohl das Gleiche.“
~*~
Gil-galad trat an die offenstehende Tür seines Arbeitszimmers
und beobachtete nachdenklich seinen Berater, der ganz ungeniert eingetreten
war, an seinem Schreibtisch stand und sich über eines der am Abend zuvor aus
den alten, fast vergessenen Archiven hervorgeholten Bücher gebeugt hatte. Er
war so sehr von dessen Inhalt gefesselt, daß er die Anwesenheit seines Fürsten
zunächst gar nicht bemerkte. Nach einiger Zeit begann er aufgeregt im Zimmer
auf und ab zu gehen.
„Ein Schmied, der sich Dringol nennt!“ Elrond
durchmaß den Raum mit großen Schritten. „Einer der Maiar Aules! Natürlich!
Wieso ist uns das nicht früher aufgefallen?“ schimpfte er. Wieder vor dem
Schreibtisch angekommen, warf er erbost das Buch auf eine andere Stelle
desselben, wodurch das letzte bißchen Staub sich von dem Band löste. Elrond hustete
und hielt sich eine Hand vor den Mund. Mit der anderen breitete er hastig die
große Pergamentrolle aus.
„Deine Karte ist nicht so ungenau, wie wir
dachten.“ Er beschwerte die beiden Seiten wahllos mit zwei herumliegenden
Gegenständen, um sie am Zusammenrollen zu hindern. Dann fuhr er mit dem Finger
von dem Gebiet am oberen Anduin nach Norden. „Hier fehlt keine weitere
Eintragung!“
Gil-galad war langsam neben ihn getreten. „Was
willst du damit sagen? Was ist mit diesem Wappen?“ Er schüttelte verständnislos
den Kopf. „Es war das Zeichen Belegols *, wie es von den Schmieden gerne und
häufig verwendet wird.“
Stockend drehte Elrond den Kopf von einer Seite auf
die andere, sein Finger glitt weiter nördlich bis zum äußersten Rand der Karte.
„Nur einer würde dieses Zeichen so gebrauchen, wie der kleine Mann es da in den
Sand gemalt hat“, flüsterte er beinahe. Er nahm das Buch wieder zur Hand und
suchte erneut die entsprechende Seite. „Sieh selbst“, forderte er Gil-galad auf
und reichte es ihm.
Eine lange Zeit vertiefte sich der Hohe König in
das Kapitel. Je mehr er las, desto entsetzter weiteten sich seine Augen.
Schließlich erschauderte er. „Gibt es keine andere Erklärung dafür?“ Konnte es
nicht sein, daß jemand durch Zufall...
Einen Moment zögerte Elrond, dann schluckte er
schwer. „Das glaube ich nicht. Die Tatsachen sprechen dagegen.“
Der Hohe König beschattete die Augen mit beiden
Händen, einen Moment schien er zu schwanken. „Die Tatsachen? Dann erklär mir
zweierlei“, sagte er tonlos. „Erstens: Wieso sollte er so freundlich zu diesen
Leuten gewesen sein? Herr Hamfast sprach mit Bewunderung, ja Ehrerbietung von
ihm.“
Elrond drehte dem Schreibtisch den Rücken und
starrte zum Fenster hinaus. „Weil er schlau ist?“ überlegte er langsam und
versuchte sich an jedes Wort zu erinnern, das der Halbling über Dringol gesagt
hatte. „Was würde er wohl erreichen, wenn er bei den Völkern, die er für sich
gewinnen oder betrügen will, als der auftreten würde, der er ist?
Ich vermute, daß er dieses Völkchen, so wie Herr
Hamfast es beschrieben hat, nicht für der Mühe wert hielt, sich näher mit ihm
zu befassen. Dennoch war er vorsichtig genug, keinen negativen Eindruck bei ihm
zu hinterlassen.“
Er wandte sich seinem König wieder zu, der den Kopf
bestätigend wog. „Und zweitens?“
„Zweitens: Wieso sollte er so leichtsinnig sein und
dieses Zeichen offen gebrauchen?“
Der junge Elb zögerte. Dies war ein berechtigter
Einwand. „Vielleicht fühlt er sich zu sicher und beginnt Fehler zu machen“,
äußerte er vorsichtig. „Vielleicht rechnet er nicht damit, daß es jemandem
bekannt sein könnte. Denke daran, wie alt diese Schriften sind und woher wir
sie haben. Vielleicht ist es ihm gar nicht aufgefallen und er hat ganz
unwillkürlich diese ihm so bekannte Form gewählt.
Schmiede bringen gerne ihre eigenen Verzierungen in
die Grundform des Wappens ein. Eine Änderung als solches ist also nichts
Ungewöhnliches.
Fest steht aber, daß keiner außer ihm, diese
spezielle Form benutzen würde! Niemand käme auf die Idee, etwas zu zeichnen, das
er nicht kennt und würde damit zufällig etwas treffen, daß es so schon einmal
gab.
Grond... Morgoths Unterwelthammer! Wie
wahrscheinlich ist es wohl, daß ihn jemals jemand gesehen hat? Jemand, der noch
lebt, meine ich.“
Tief durchatmend ließ sich Gil-galad in seinem
Sessel nieder. „Gorthaur **...“, stöhnte er. „So haben mich meine schlimmsten
Befürchtungen also nicht betrogen!“ Er atmete tief durch und erhob sich wieder.
„Wir müssen augenblicklich etwas unternehmen!“ Jetzt war er es, der den Raum mit
großen Schritten durchquerte.
„Nach Lórinand wollte er? Kontakt zu den dortigen
Elben aufnehmen?“ Er lachte bitter. Dies warf ein ganz anderes Licht auf die
Sache. Natürlich! Die Nandor! Jene Elben, die ihn am wenigsten leicht
durchschauen würden! Auch das paßte, wenn man es genau betrachtete! „Dann muß
Galadriel auf der Stelle dorthin aufbrechen und die dort lebenden Eldar
warnen!“
„Und sie wird den Weg durch die Minen von
Hadhodrond nehmen müssen. Ohne Celeborn, wenn es sein muß“, bestätigte Elrond,
der immer noch mit dem Rücken zum Schreibtisch stand und seinem König mit den
Augen folgte.
Dieser war ans Fenster getreten und richtete seinen
Blick in die Ferne. Seine Gedanken suchten nach der Herrin von Eriador.
*Sindarin für Aule
**Sindarin für Sauron