Ættryne

 

 

 

Gylthain erwachte mit einem pochenden Schmerz im Kopf. Seine Augen waren von einer zähen Flüssigkeit verklebt. Er wischte mit dem Unterarm darüber und stellte fest, daß es Blut war. Es kümmerte ihn nicht. Mühsam rappelte er sich auf. Er stöhnte. Er fühlte sich, als wäre er zwischen einen Rammbock und sein Ziel geraten. Er hatte mehrere üble Prellungen abgekommen, doch zum Glück schien nichts gebrochen zu sein.

 

Die Sonne stand hoch am Himmel. Er war fast einen ganzen Tag bewußtlos gewesen. Doch daran verschwendete er im Augenblick keinen Gedanken. Stolpernd schleppte er sich dorthin, wo seine Lieben lagen. Bangend untersuchte er ihre Körper in der Hoffnung, noch Leben in ihnen zu finden. Einen nach dem anderen. Doch sie waren tot. Alle. Und jede enttäuschte Hoffnung trieb Gylthain einen Dolch tief ins Herz.

 

Der Knabe gab keinen Laut von sich. Keinen Ton des Schmerzes. Er hockte auf dem Boden, die Hände auf den Knien abgestützt, mit hängendem Kopf und rührte sich nicht. Nur seine gepeinigte Miene, die ausdruckslos ins Leere starrenden Augen, der stockende Atem, verrieten seine Qual.

 

Wie lange er so gesessen hatte, wußte er nicht. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, löste sich ein tiefer, schwerer Atemzug aus seiner Brust. Er hob den Kopf in den Nacken, sah zum Himmel und brüllte in einem langanhaltendem Schrei seine Trauer heraus.

 

Dann erst kam wieder Leben in den jungen Rohír. Entschlossen stand er auf. Er blickte sich um. Hier konnte er sie nicht liegen lassen. Nicht so. Die wilden Tiere würden über sie herfallen. Doch eine Schaufel, sie zu begraben, hatte er nicht. Er hatte überhaupt nichts mehr. Schwerter, Dolche, Messer, Bogen - alles hatten die Orks mitgenommen. Nur die Standarte, die sie nicht hatten gebrauchen können, lag noch im Wagen.

 

Gylthain nahm sie heraus und legte sie zur Seite. Dann schleifte er die toten Körper zusammen an einen Platz. Gylmer und Delwyn lagen bereits dicht beieinander. Gylford nur wenig weiter. Den stattlichen Lambold konnte der Knabe nur mit großer Mühe herüberziehen, leichter fiel es ihm bei den beiden Knappen. Earna war von den Orks im Wagen erschlagen worden, von wo er sie nicht herunterheben konnte. Zuletzt trug er seine beiden jüngeren Geschwister, Gylthond und Gyltha, heran und legte sie in die Arme der Eltern.

 

Der Junge schwitzte und schnaufte von der Anstrengung. Seine Kopfwunde war wieder aufgebrochen und ein dünner Blutstrahl lief ihm über das Gesicht. Nachlässig wischte er ihn fort. Dann blickte er hinaus in die Ebene, formte die Lippen zu einem schmalen Schlitz und stieß einen markanten Pfiff aus. Nur wenige Herzschläge später wurde dieser von einem schrillen Wiehern erwidert und erneut einige Herzschläge danach sah Gylthain, wie seine Stute im gestreckten Galopp seinem Ruf Folge leistete.

 

Als sie bei ihm ankam, umschlang er schluchzend ihren Hals. „Fryda, min freond. Du bist das einzige, was mir noch geblieben ist!“ Tränen strömten über sein Gesicht, und er schämte sich ihrer nicht. „Du mußt mir helfen, Fryda.“

 

Er führte sie zum Wagen, band die Geschirre von der Deichsel los, legte ihr eines um, knüpfte das andere daran, um mehr Länge zu erhalten und befestigte es an der Seite des Karrens, und zwar an einer Halteöse am oberen, gegenüberliegenden Rand. Dann faßte er seine Stute am Zügel und führte sie im rechten Winkel vom Wagen fort. Das leichte Fuhrwerk leistete kaum Widerstand. Mit einem lauten Rums kippte es zur Seite, überschlug sich durch den Schwung und kam kopfüber genau über den toten Körpern zu liegen.

 

Gylthain atmete scharf ein und stieß die Luft in einem langen, ergebungsvollen Atemzug wieder aus.

 

Die schwerste Arbeit war getan.

 

Jetzt sah er sich die Orkleichen näher an. Er zählte Dreiunddreißig.

 

„Noch Siebzehn übrig“, sagte er zu sich selbst, während er mit grimmiger Miene des Vaters leeres Schwertgehänge umband. Es war ihm zu groß, und er mußte es zusammenknoten. „Ich werde dich rächen, Vater!“ sagte er mit erschreckend ruhiger Stimme. „Ich werde euch alle rächen!“

 

Die Spuren der Orks führten hinauf ins Gebirge, wo ihm sein Pferd nur hinderlich war. Deshalb nahm er ihm Sattel und Zaumzeug ab und ließ es frei laufen. Fryda würde auf sich aufpassen.

 

Gylthain nahm die Standarte vom Boden auf. Er wog den hölzernen Stab in der Hand als wollte er abschätzen, ob er sich als Waffe eignete. Eigentlich war sie zu groß für ihn und hatte nicht einmal ein spitzes Ende. Doch es war das einzige Werkzeug, mit dem er arbeiten konnte. Er wollte sich bereits auf den Weg machen, den Orks zu folgen, da zögerte er einen Moment. Dann knüpfte er den Faden auf, der den Stoff zusammen hielt. Langsam und andächtig rollte er ihn auseinander und hielt den Stab herausfordernd in die Höhe, während er stolz aufgerichtet das Banner betrachtete. Das Wappen seiner Familie. Der steigende schwarze Hengst auf blauem und grünem Grund.

 

 

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