Ættryne

 

 

 

Gylthain hatte kurz überlegt, zurück nach Edoras zu reiten, um Hilfe zu holen, den Gedanken aber sofort wieder verworfen. Es dauerte zu lange. Allein die Zeit, die der Ritt in Anspruch nehmen würde. Dann würde er dem König berichten müssen. Dieser würde sich entscheiden müssen. Und dann würde er noch ein paar Soldaten, vielleicht gar eine ganze Éored, zusammenrufen. Und zu guter Letzt würden sie ihn nicht mitreiten lassen. Sie würden ihn zum Heiler schicken!

 

Bei all dieser versäumten Zeit wären die Orks längst über alle Berge. Niemand würde sie zur Rechenschaft ziehen für das, was sie seiner Familie angetan hatten. Was sie ihm angetan hatten! Und mit ihnen wäre Ættryne, das edle Schwert, stolzes Erbstück des Hauses Gyltred, für immer verloren!

 

Mit raschen Schritten folgte Gylthain den Spuren. Die Standarte hielt er in beiden Händen quer vor sich her, um sich besser bewegen zu können. Sie flatterte munter im Wind.

 

Der Knabe war bereits ein recht geschickter Fährtenleser. Als der härter werdende Untergrund keine Fußabdrücke mehr annahm, fand er andere Anhaltspunkte, nach denen er sich richten konnte. Hier war ein kleiner Fetzen der Lumpenkleidung eines Orks an einem spitzen Stein hängen geblieben, dort hatte jemand seinen Unrat hinterlassen... Aber es war zeitaufwendig, nach diesen Hinweisen zu suchen, und Gylthain stöhnte mehr als einmal vor Frustration und Ungeduld.

 

Als er wieder einmal nach dem nächsten Anhaltspunkt suchte, entdeckte er einen dunklen Flecken auf einem der Steine. Er bückte sich, um ihn näher zu betrachten. Blut! Gylthain jubelte innerlich. Einer der Orks blutete. Als er in die Richtung sah, die die Rotte von hier genommen haben mußte, sah er, daß eine leichte Spur von Blutstropfen dort entlang führte. Entweder hatten die Orks sich hier gestritten, und einer von ihnen war verwundet worden, oder er war schon vorher verletzt und der Verband war jetzt durchgeblutet.

 

Gylthain richtete sich auf. Wie auch immer. Jetzt brauchte er nicht immerzu Zeit mit der Suche zu vergeuden.

 

Der Knabe rannte so schnell er konnte. Nur selten gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, in der er den Blick prüfend um sich gleiten ließ. Die Blutstropfen wurden frischer. Er holte auf. Das spornte ihn noch mehr an, sein Bestes zu geben.

 

Und noch etwas war ihm aufgefallen: Das Blut wurden nicht nur frischer, sondern die Flecke auch größer und häufiger. Der Ork blutete stärker, und schließlich war Gylthain der Überzeugung, daß jemand, der soviel Blut verliert, unmöglich weitergehen konnte - selbst wenn er ein Ork war.

 

Gylthain hielt inne. Inzwischen war die Sonne weit nach Westen gewandert. Noch eine Stunde, vielleicht zwei. Dann würde sie nicht mehr genug Licht spenden, um die Spur für heute weiter zu verfolgen.

 

Dennoch gönnte er sich die Zeit, um über seine weitere Vorgehensweise nachzudenken. Er versuchte, sich in die Situation der Verfolgten hineinzuversetzen. Wo wollten sie hin? Ihm war nicht bekannt, daß es in der Nähe einen Stamm gab. Für gewöhnlich kamen die Orks, mit denen sie sich hier herumschlugen, aus dem Nebelgebirge. Doch das kam selten vor. Die Éorlingas erlaubten es niemandem, ungestraft ihr Land zu betreten.

 

Doch etwas anderes beschäftigte den Knaben weit mehr. Wie würden sich die Orks verhalten, wenn einer ihrer Gruppe aufgrund einer Verwundung nicht mehr weiterkonnte? Waren sie kameradschaftlich genug, mit ihm zu rasten? Würden sie ihn einfach zurücklassen? Oder würden sie ihn gar töten und seine Habseligkeiten an sich nehmen?

 

Gylthain kannte sich zu wenig aus, um zu beurteilen, was die Orks in diesem Fall unternehmen würden, aber er wußte, daß er jetzt vorsichtig sein und nicht zu ungestüm vorwärts rennen durfte, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, mitten in die Horde hinein zu laufen.

 

Er faßte die Standarte fester und atmete tief durch, sah sich noch einmal um und stapfte dann entschlossen weiter.

 

Als der schmale Pfad eine Biegung machte, hörte er ein Röcheln. Blitzschnell trat er hinter einen Felsvorsprung und lauschte nach vorne. Er hörte jemanden reden. Leise und undeutlich. Gylthain verstand kein Wort, aber jetzt antwortete jemand. Seine Worte waren klar, auch wenn sie deshalb keinesfalls schön klangen. Der Erste mußte der Verwundete sein, der Zweite jemand, der neben ihm saß und ihn versorgte, den stöhnenden Lauten nach zu urteilen, die klangen, als würden Berührungen die Schmerzen der Wunde zwar verstärken und wären dennoch willkommen.

 

Nachdem Gylthain eine Weile gelauscht hatte, und keine Geräusche von weiteren Anwesenden ausmachen konnte, wagte er einen schnellen Blick um die Ecke.

 

Nein. Nur zwei. Sie waren allein und kein anderer Ork zu sehen.

 

Gylthain umklammerte den Stiel der Standarte und rechnete in Gedanken die Schritte bis zu den beiden Orks nach. Der Unverletzte saß mit dem Rücken zu ihm. Er würde ihn nicht sehen kommen. Der Verletzte hatte so elend ausgesehen, als würde er überhaupt nicht mehr viel um sich herum mitbekommen. Gylthain runzelte die kindliche Stirn. Vielleicht sah er aber auch nur immer so aus, überlegte er.

 

Dann schüttelte er alle Unachtsamkeit von sich ab. Jede Faser seines kleinen Körpers war gespannt und alle Sinne beisammen. Flink rannte er auf die beiden Feinde zu. Leise. Erst als der eine seine Schritte vernahm, sich nach ihm umwandte und sich aufrichten wollte, stieß Gylthain einen lauten, brüllenden Schrei aus. Der Ork kam nicht bis zum Stehen. Gylthain schlug ihm das harte Holz des Stabes in einem weitausholenden Hieb waagerecht gegen die Seite, daß er mit einem Grunzen zu Boden flog. Sogleich stand der Knabe über ihm. Er holte mit der senkrecht in beiden Händen gehaltenen Stange Schwung und trieb sie ihm mit aller Gewalt seiner unterdrückten Trauer in den Hals. Der Kehlkopf brach. Der Ork versuchte zu röcheln und erstickte an seinem eigenen Blut.

 

Gylthain wartete einen Moment, um sicher zu gehen, daß er sich nicht mehr erheben konnte, und ließ den anderen Ork dabei nicht aus den Augen. Dieser hatte sich mühsam aufgerappelt und versuchte zu fliehen. Gylthain bückte sich, zog das Scimitar aus der Scheide seines toten Gegners, ließ die Standarte fallen, rannte dem Flüchtling hinterher und stieß ihm die Klinge in den Leib.

 

Mit einer Seelenruhe, die die innere Aufgewühltheit des Knaben nur umso deutlicher zum Ausdruck brachte, wischte er die Klinge an seinem Wams ab und steckte das Scimitar so gut es ging in die eigene Scheide. Es paßte nicht ganz hinein, weil es im Gegensatz zu Ættryne gebogen war. Dafür war es deutlich schmaler und blickte deshalb am oberen Ende nur noch etwa eine Handbreit hervor. Dann nahm er die Standarte wieder auf.

 

„Noch Fünfzehn“, murmelte er.

 

 

~*~

 

 

zurück     weiter

 

 

Hauptseite

 

---