Ættryne
„All ihr guten Götter!“ Der Hauptmann hatte seinen Leuten
mit erhobener Hand das Zeichen zum Halten gegeben. Doch das Bild, das sich
diesen bot, als sie endlich das Ende der verfolgten Spur erreicht hatten, ließ
die Soldaten ihren üblichen Gehorsam vergessen. Die lange Zweierreihe, in der
sie gekommen waren, löste sich auf wie Sand, der durch die Finger rinnt, als
sie aneinander vorbei drängten, um einen besseren Blick zu erhaschen.
„Gylthain!“ schrie plötzlich ein Jüngling, stieß seine
Vordermänner auseinander, um sich zwischen ihnen hindurch zu drängen, und eilte
zu dem bäuchlings am Boden liegenden Knaben. Einen Moment zögerte er in banger
Befürchtung, dann drehte er ihn vorsichtig auf den Rücken.
Gylthain stöhnte. Er versuchte die Augen zu öffnen,
doch er brachte die Lider nur zu einem schwachen Flattern.
Der andere atmete tief auf. „Du lebst! Den Göttern
sei Dank!“
„Guthláf?“ Es kam nur ein heiseres Flüstern über
die Lippen des Knaben. „Bist du das?“
Dem Gefragten liefen Tränen der Erleichterung über
die Wangen. Er brachte nur ein bestätigendes „M-hm...“ heraus. Er hatte zuerst
nach der Kopfwunde des Jungen gesehen und sogleich erkannt, daß sie nicht die
Ursache für seinen Zustand sein konnte. Sie war nicht viel mehr als ein Kratzer
und außerdem schon älter und verkrustet. Dann entdeckte er die schlimme
Hiebwunde im Oberschenkel.
Jetzt trat auch der Hauptman heran und hockte sich
neben den Verwundeten, legte ihm eine Hand auf die Schulter und beobachtete
seinen jüngsten Soldaten bei der Versorgung der Wunde. „Junge! Was ist hier
geschehen?“ erkundigte er sich in fassungslosem Ton. Er hob den Blick und ließ
ihn kopfschüttelnd über das Lager gleiten. „Was hast du getan?!“
„Autsch!“ Gylthain hatte sich trotzig aufsetzen
wollen und dabei den Druck Guthláfs auf seine Beinwunde verstärkt. Ihn
schwindelte. Zu der Verletzung kamen seine Erschöpfung und der Nahrungsmangel
hinzu, und er fühlte sich elend und übel. Also ließ er sich wieder nach hinten
sinken. Der Hauptmann legte ihm seinen Arm unter die Schultern und verhinderte
so, daß er auf der Leiche des Oberorks zu liegen kam. Mit einer Bewegung seines
Kopfes wies er einen der herangekommen Soldaten an, den toten Körper zu
entfernen.
„Ich mußte doch Ættryne zurückholen!“ verteidigte
Gylthain sich gerade. „Und... und...“ Er schluckte schwer. Es war ihm gelungen
die Augen zu öffnen, und jetzt quollen Tränen daraus hervor. „Habt ihr sie
gefunden?“ brachte er mühsam hervor.
„Das haben wir.“ Der Hauptmann betrachtete den
Knaben eine Weile mit tiefem Mitgefühl. „Sie werden gerade nach Edoras
gebracht.“
Gylthain fuhr sich mit der Handkante unter der Nase
durch, um sie zu trocknen. Dann zog er schniefend den anderen Teil des Inhalts
nach oben. „Ich mußte ihre Mörder doch bestrafen!“ flüsterte er.
Der Hauptmann schüttelte andeutungsweise den Kopf
und sagte nichts. Es würde ohnehin nichts ändern. Er vergewisserte sich noch
einmal, daß Guthláf die Wunde ordentlich versorgt hatte und erhob sich.
„Machen wir, daß wir hier fortkommen!“ forderte er
seine Männer auf. „Ihr beide werdet Gylthain tragen“, ordnete er an.
„Ich kann gehen!“ maulte der Junge.
„Ja, natürlich...!“ Der Hauptmann verdrehte die
Augen und wies die beiden Bestimmten mit einem Handwedeln an, ihn aufzunehmen.
„Wartet! Wartet!“ rief Gylthain gehetzt, als diese
ihn schon hochgehoben hatten und fortbringen wollten. Der Knabe wand sich in
ihren Armen und drängte zurück zu dem Platz. „Ættryne!“ flehte er, als habe er
Angst, das Schwert könnte vergessen werden.
„Hier ist es.“ Guthláf hielt ihm das Schwert mit
dem Knauf voraus entgegen, so daß der Knabe danach greifen konnte. Natürlich
war er viel zu schwach, um es zu halten, aber seine Augen strahlten glücklich,
als er die Finger um das weiche Leder schloß.
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