Lesesucht
Hamfast
schob rückwärtsgehend die Tür auf und drehte sich danach vorsichtig um, während
er in der einen Hand einen Korb mit Nüssen, Äpfeln und Trockenobst, und in der
anderen ein Tablett mit Käsehäppchen und einer Flasche Rotwein balancierte – die
Flasche schwankte gefährlich, aber er führte eine geschickte Wellenbewegung mit
dem Arm aus, und die Flasche stellte sich mit einem dumpfen „Plop“ zurück an
ihren Platz.
Ich
wandte den Blick ab und vergrub meine Nase wieder in mein Buch.
„Der
vierte Band?“ Hamfast stellte seine Gaben auf den großen Couchtisch, trat an
meine Seite und verrenkte den Kopf, um einen Blick auf den Einband zu werfen,
was natürlich nicht möglich war, da ich das schwere Buch auf ein dickes Kissen
auf meinem Schoß gebettet hatte.
„Mhmm…“,
murmelte ich nur, ohne den Blick zu heben. Es war gerade spannend. Es war immer
spannend. Und wenn es das gerade mal nicht war, so war es zumindest
interessant. Gut, ganz selten war es auch etwas ruhiger. Manchmal sogar etwas
langweilig. Aber das hielt nie lange an. Und machte kaum einen Unterschied,
wenn man zu träge war, um sich zu erheben, aus purer Faulheit einfach weiterlas,
um kurz darauf auf die nächste spannende Szene zu treffen.
„Der
letzte ist noch nicht erschienen, oder?“, versuchte der kleine Mann meine
Aufmerksamkeit zu gewinnen.
„Doch,
aber noch nicht da“, seufzte ich. Ich hielt im Lesen inne, um einen
abschätzenden Blick auf die verbleibenden Seiten zu werfen. Die Hälfte des
Buches war ungefähr noch übrig. Ich mußte langsamer lesen oder einfach weniger,
wollte ich vermeiden, daß ich mehrere Tage auf die Fortsetzung warten mußte.
Das wäre furchtbar! Ich wollte wissen, wie es weitergeht. Dummerweise wollte
ich das nicht erst am Ende des Buches, sondern auch jetzt. Ich zögerte noch
einen kurzen Moment und machte dann Anstalten weiterzulesen.
„Dann
kannst du in der Zwischenzeit ja an meiner Geschichte weiterschreiben“, freute
sich Hamfast, dem mein innerer Konflikt völlig entgangen war. Natürlich hatte
er sich bereits über seine mitgebrachten Köstlichkeiten hergemacht. Er schob
sich noch eine Dattel zwischen die Zähne und lief eifrig zu dem kleinen Hocker
in der Ecke, mit dessen Hilfe er an die Weingläser in der oberen Vitrine gelangte.
„Weißt
du, ich bin wirklich gespannt, wer dieser seltsame Mensch ist, und welches
Verhältnis er zu den Spinnen hat, und woher Thranduil ihn kennt und wie das
alles mit dem großen Hammer zusammenhängt!“ plauderte er eifrig. Er stellte
zwei Gläser neben das Tablett.
„Ich
habe keine Ahnung…“, murmelte ich.
„Du
hast WAS?“ Hamfast hielt erschrocken beim Eingießen inne. Ein roter Tropfen
lief an der Weinflasche entlang, blieb einen kurzen Moment am Boden hängen und
tropfte lautlos auf die Tischdecke.
Ich
zog eine Augenbraue hoch und betrachtete unzufrieden den kleinen Fleck.
„Ich
weiß es nicht“, wiederholte ich etwas energischer. Unzufrieden. „Ich habe mich
entschlossen, die Geschichte abzubrechen“, teilte ich ihm meine Entscheidung
mit.
Hamfast
stand wie erstarrt und gaffte mich mit offenem Mund an. Dann stellte er langsam
und wie in Trance die Weinflasche zurück auf das Tablett.
„Aber…
Das kannst du doch nicht machen! Das geht nicht!“ stotterte er.
Ich
zuckte mit den Achseln und sagte nichts, unterbrach aber für den Moment meine
Lektüre und starrte vor mich ins Leere.
„Ich
warte seit vier Jahren auf die Fortsetzung!“, empörte Hamfast sich jetzt, trat
mit wenigen Schritten auf mich zu, stützte beide Hände auf meine Knie und sah
mich anklagend an. „Weißt du wie das ist? Vier Jahre lang in einem dunklen Wald
zu stehen, auf Antworten zu warten und nicht zu wissen, ob und wann und wie man
jemals wieder nach Hause kommt?“ Er packte fester zu und schüttelte mich. „Und
der arme Bôr! Er wartet da draußen irgendwo auf mich, und weiß nicht einmal,
warum es so lange dauert!“ Jetzt schrie er fast. Verzweifelt. Verloren.
Ich
räusperte mich verlegen. Es gelang mir nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Die
Stille zog sich unangenehm, bevor Hamfast tief und zittrig durchatmete. Er
sagte nichts.
Ich
senkte den Blick auf mein Buch. Der vierte Band. Die Fortsetzung noch auf dem
Weg in meine Buchhandlung.
Vier
Jahre…
Langsam
begann ich zu begreifen, wie Hamfast sich fühlen mußte.
Tat
ich das?
Nachdenklich
runzelte ich die Stirn.
„Hast
du gerade gesagt, ihr steht die ganze Zeit im Wald und… wartet?“
Hamfast
ließ mit einem Riesenseufzer von mir ab und widmete sich erneut dem Einschenken
des Weins.
„Naja,
gelegentlich schlafen wir auch, und essen etwas – uns gehen langsam die Vorräte
aus!“ Mit einer anklagenden Bewegung schwenkte er ein Stück Käse vor meiner
Nase. „Und ohne deine Vorgaben, weiß niemand, was er sagen soll!“, fügte er
kauend hinzu. „Äußerst unangenehm. Du kennst das, oder? Wenn man nur herumsteht
und nichts zu sagen weiß? Der Mensch beschwert sich außerdem, daß seine Fesseln
scheuern, und verlangt ständig, daß er sich endlich verteidigen darf. Herr
Celeborn sitzt da, schärft seine Axt wieder und immer wieder und lauscht in die
Äußere Leere auf ein Zeichen, endlich mit der Gerichtsverhandlung zu beginnen.
Ich glaube, sogar er wird langsam ungeduldig…“
Ich
schluckte. Mir war nicht bewußt gewesen, daß so viel von mir abhing.
„Aber
ich weiß doch einfach nicht, wie es weitergehen soll!“, heulte ich fast, als mir
klar wurde, was ich da angerichtet hatte. „Ich habe diese Geschichte
angefangen, ohne zu wissen, wohin sie führen soll! Ich WEISS nicht, wer dieser
Mensch ist, und was seine Motive sind!“
„Hm...“
Hamfast reichte mir ein Weinglas, griff sich das andere und kletterte damit in
den zweiten Sessel. Dieser war viel zu groß für Hobbitverhältenisse, so daß nur
seine Füße über die Sitzfläche hinausragten.
„Warum
fragst du ihn nicht einfach?“, wollte er wissen.
Ich
blickte auf. Ihn fragen? „So funktioniert das nicht.“
„Warum
nicht? Weil du es noch nicht versucht hast?“ Hamfast schüttelte den Kopf, als
hätte er gerade eine sehr dumme Antwort von einem besonders dummen Kind
erhalten. Dann trank er einen großen Schluck, schmeckte ihn einen Moment im
Mund, bevor er ihn mit einem genießerischen Gesichtsausdruck schluckte. „Es ist
Weihnachten“, sagte er dann, als wäre es die Antwort auf alles.
„Äh.
Ja?“, fragte ich mit dummer Miene. „Und?“
„Na,
da werden doch Wünsche wahr, oder nicht?“ Hamfast rutschte auf seinem Sitz
etwas nach vorne und nickte mir aufmunternd zu.
Schweigend
wartete ich auf eine Erklärung.
„Sieh
mal, es ist doch ganz einfach: Wenn der Mensch dir erklären kann, was er getan
hat und warum, dann kannst du weiterschreiben, richtig? Und wir kommen alle
endlich da weg und können nach Hause gehen. DAS wünsche ich mir zu Weihnachten.“
Er lächelte.
„Du
möchtest nach Hause.“ Natürlich. Es war keine Frage. Ich nickte leise vor mich
hin. Ein bescheidener Wunsch. Konnte ich meinem guten Freund diesen nicht
erfüllen? Tief atmete ich durch.
Noch
einmal betrachtete ich das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß, dann klappte
ich es entschlossen zu.
„Es
wird aber noch eine Weile dauern, bis du nach Hause kannst. Diese Weihnachten
wird das nicht mehr klappen, selbst wenn ich jetzt damit anfange
weiterzuschreiben“, wandte ich bedauernd ein.
Hamfast
strahlte jetzt über das ganze Gesicht. „Das macht nichts“, erwiderte er gut
gelaunt. „Dann schenkst du mir für dieses Weihnachten deinen guten Willen!“
Deinen
guten Willen.
Jetzt
lächelte auch ich. „Ja, den schenke ich dir. Von ganzem Herzen!“ versprach ich
ihm.
ENDE
© Ithrenwen, Weihnachten
2024