Der zerstreute Weihnachtswichtel

 

 

 

Es war einmal ein Weihnachtswichtel, der war stets freundlich und hilfsbereit und jeder mochte ihn gut leiden. Und weil er so ein gutherziger Kerl war, brachte es Sankt Nikolaus nicht über sich, ihn am Heilig Abend zu übergehen, wenn er jedem Wichtel seinen Anteil der Geschenke zum Verteilen ausgab. Unser Wichtel war nämlich leider sehr schusselig. Ganz egal wie sehr er sich auch bemühte, immer wieder brachte er die Empfänger seiner Gaben durcheinander. Da nützte es auch nichts, wenn Sankt Nikolaus die Wegbeschreibung deutlich auf jedes Päckchen malte - der kleine Wicht konnte nämlich nicht lesen - oder gar ein Bild der zu beschenkenden Person beilegte. Irgendwie brachte der Wichtel es immer wieder fertig, Beschreibung und Bild zu verwecheln oder gleich ganz zu verlieren, und wenn es ihm doch einmal gelang, eines von beidem zunächst richtig zuzuordnen, so legte er am Ende dennoch mit absoluter Sicherheit das falsche Päckchen unter dem Christbaum ab.

 

In der Vergangenheit hatte der kleine Weihnachtswichtel damit bereits für soviel Durcheinander gesorgt, daß seine Kameraden alle Hände voll damit zu tun hatten, sein Chaos zu beseitigen, bevor irgend jemand etwas davon bemerken konnte. Sie hatten dafür sogar Doppelschichten einlegen müssen, so turbulent war es in den letzten Jahren zugegangen.

 

Eigentlich hätte man ihn in diesem Jahr vom Dienst zuspendieren müssen, aber weil, wie bereits erwähnt, Sankt Nikolaus ihn bei dem von allen Wichteln langersehnten Einsatz im Dezember nicht völlig ausschließen wollte, so übergab er ihm diesmal nur mehr zwei Geschenke, die er überbringen sollte. Davon steckte er ein jedes eigenhändig in jeweils eine seiner großen Hosentaschen und schärfte ihm ein, immer nur jenes Geschenk in die Hand zu nehmen, das er soeben auslieferte, zusammen mit dessen Wegbeschreibung und Empfängerbild.

 

Nun war unser Wichtel nicht nur außerordentlich schusselig, sondern auch recht vergeßlich. Zwar hielt er sich streng an die Vorgaben, und hätte auch fast alles richtig gemacht, doch dann betrachtete er verwirrt das Päckchen in seiner Hand. Sankt Nikolaus hatte ihm erklärt, was sich darinnen befand in der Hoffnung, ihm dadurch die Zustellung zu erleichtern. Doch unser Wichtel konnte sich einfach nicht mehr erinnern, was in dem bunt eingeschlagenen Päckchen mit der schönen roten Schleife steckte. Zu allem Elend zog er nun das andere Paket aus der Hosentasche, um die beiden zu vergleichen und in der Hoffnung, sich zu erinnern. Und schon war es passiert! Die Geschenke waren vertauscht.

 

Ausgerechnet in diesem Jahr fand die Christmette um eine Stunde früher statt als üblich, und deshalb konnte keiner der anderen Weihnachtswichtel das Malheur beheben, bevor die Menschen nach Hause kamen und die verwechelten Geschenke öffneten.

 

So kam es, daß der Dorflehrer am Heilig Abend den schönen stabilen Gehstock mit dem bequem gepolsterten Griff unter seinem Weihnachtsbaum fand und die alte Witwe des Polizeidirektors den schicken Zeigestock aus Kirschbaumholz.

 

Diese beiden Menschen aber, konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Anstatt nun also dem jeweils anderen sein Geschenk zu überbringen - es war ja ganz offensichtlich, für wen die Gabe bestimmt gewesen war - stellte der Dorflehrer den Gehstock in eine Ecke neben der Haustür, und die alte Witwe benutzte den Zeigestock zum Aufbinden ihrer Orchidee.

 

Im darauffolgenden Jahr übergab Sankt Nikolaus unserem Weihnachtswichtel, entgegen der Forderungen seines Aufsichtsrats, erneut zwei Geschenke für eben diese beiden Personen. Dieses Mal packte er sie in durchsichtige Folie, damit der Kleine nicht wieder rätseln mußte, was sich darinnen befand, band ein rotes Schleifchen darum und zauberte ein paar glitzernde Sterne auf die Hülle.

 

Als nun unser Weihnachtswichtel beim Dorflehrer vor dem Christbaum stand, und er sich nicht erinnern konnte, was es mit dem spitzenumsäumten Stückchen Stoff und den bunten Schokoladenriegeln auf sich hatte, entschied er kurzerhand, den Tafelschwamm beim Lehrer zu lassen und die Süßigkeiten zur Witwe zu bringen.

 

Als nun die Zeit der Bescherung kam, erhielt die Witwe eine Packung Tafelkreide und der Lehrer ein Witwenhäubchen. Erstere wurde als Erhöhung unter die Orchidee geschoben - die hatte ohnehin zu niedrig gestanden - und letztere fand einen Platz an der Garderobe bei der Haustür, gleich neben dem Gehstock in der Ecke.

 

Als nun das dritte Weihnachten nahte, protestierte der Aufsichtsrat einstimmig gegen den erneuten Einsatz des armen verwirrten Weihnachtswichtels.

 

Doch Sankt Nikolaus lächelte nur milde, machte seinen Aufsichtsratswichteln deutlich, daß sie im Grunde genommen überhaupt nichts verlangen könnten, da sie sich ohne seine Zustimmung einfach selbst zu Mitgliedern dieser fragwürdigen Organisation ernannt, und ohnehin keine Ahnung davon hatten, wie so ein Weihnachtsbetrieb zu führen sei. Er erklärte die Sitzung für geschlossen und scheuchte die schimpfende Schar aus seiner Stube.

 

Dann zog er mit einem verschmitzten Lächeln zwei gleich große, gleich schwere, gleich geformte und gleich eingepackte Geschenke aus seinem großen Gabensack und rief den kleinen Weihnachtswichtel zu sich.

 

An diesem Weihnachtsfest fanden beide, der Dorflehrer und die Direktorenwitwe, einen wunderschönen gußeisernen Teekessel unter dem Gabenbaum.

 

Der Dorflehrer freute sich, weil er genau solch einen Teekessel schon lange hatte haben wollen, und die Witwe war begeistert, weil dieser Teekessel fast doppelt so groß war wie der alte, dessen Inhalt nie ausgereicht hatte für die die Bewirtung ihrer kleine Teeklatschrunde am Samstagnachmittag.

 

Der Dorflehrer füllte die Teekanne sogleich mit frischem Wasser und stellte sie auf den Herd.

 

Die Witwe befestigte ihre Teekanne am Haken über dem Feuer.

 

Beide freuten sich.

 

Doch wie sie so dasaßen und darauf warteten, daß das Wasser zu kochen begann, wich die Freude nach und nach einem anderen Gefühl.

 

War dies tatsächlich ihr Geschenk?

Es war doch nicht etwa das Geschenk des Erzfeindes oder der Erzfeindin?

Was zuerst Neugierde war, schwenkte um in Neid.

Nie und nimmer gönnte der eine dem anderen ein solch wunderbares Geschenk!

 

Endlich wurden beide immer unruhiger.

Wenn diese Teekanne für den jeweils anderen bestimmt gewesen war, welches Geschenk hätte man selbst dann tatsächlich erhalten sollen?

Diese Frage hatte sich in den vorangegangenen Jahren keiner der beiden gestellt, denn weder Zeige- noch Gehstock, noch Tafelkreide oder Witwenhäubchen waren ihnen so wundervoll erschienen, daß es sich gelohnt hätte, darüber nachzudenken.

 

Jetzt aber standen sie da, der eine vor seinem Herd, die andere vor ihrem Kamin, und freuten sich nicht mehr über die schöne Teekanne, denn ein jeder spekulierte darauf, noch etwas viel Schöneres zu erhalten.

 

Als beide sich lange genug in ihre neidischen Gedanken hineingesteigert hatten, packte ein jeder seine Teekanne ein - sie hatten nicht einmal lange genug Zeit gehabt, sich dafür zu stark zu erwärmen - und machte sich auf den Weg durch Schnee und Kälte.

 

Die Witwe war noch nicht weit gekommen. Ihr fehlte der Gehstock, und sie kam nur sehr langsam voran. Sie hatte noch nicht den Zaun ihres Vorgartens erreicht, als der Dorflehrer ihr bereits entgegen kam.

 

„Ich habe da etwas für Sie!“ erklärte er mürrisch und stellte das Paket einfach neben die Alte in den tiefen Schnee.

 

„Das trifft sich gut. Ich nämlich auch für Sie!“ schnautze die Witwe zurück, und hielt ihm das eigene Paket entgegen.

 

Der Lehrer schnappte sich „sein“ Geschenk, drehte auf den Fersen um und stapfte so schnell es ging und ohne einen weiteren Gruß von dannen.

 

Die Witwe bückte sich umständlich zu dem „Schatz“ zu ihren Füßen und trug ihn in seeliger Vorfreude hinein ins Haus.

 

Doch was war das? Als sie so voller Begeisterung das Päckchen endlich geöffnet hatte, erblickte sie die Teekanne, die sie gerade eben dem Dorflehrer in die Hand gedrückt hatte!

 

Und der Dorflehrer? Er traute seinen Augen kaum, als er bemerkte, daß die Teekanne auf irgendeine rätselhafte Weise wieder bei ihm zu Hause gelandet war. Sogar feucht war sie noch von dem Wasser, das er erst eingelassen und dann wieder ausgeschüttet hatte!

 

Fassungslos starrten beide die Teekanne an, von der sie glaubten, daß es die selbe war, die sie soeben hatten hergeben wollen.

 

Wütend packte der Dorflehrer seine Teekanne wieder ein und stand damit schon vor der Tür der Witwe, als diese soeben ihre Teekanne wieder verschnürt hatte. Er stellte sein Paket neben dem ihren ab und war einen Moment lang unschlüssig, ob er sich das andere einfach schnappen und damit aus dem Staub machen sollte.

 

Da forderte die Witwe ihn auf, die Geschenke doch gleich auszupacken, damit es nicht erneut zu einer Verwechslung käme.

 

Gesagt getan. Begierig rissen beide das bunte Papier herunter, klappten die Deckel auf und starrten verwirrt von einem Inhalt zum anderen.

 

„Oh“, war alles, was die Witwe dann sagte.

 

Und „Oh!“ wunderte sich auch der Lehrer.

 

Und zum ersten Mal seit sie sich kannten, widersprachen sie einander nicht.

 

Plötzlich ärgerten beide sich, weil sie sich selbst die schöne Weihnachtsfreude mit ihrer Mißgunst verdorben hatten. Der Dorflehrer entschuldigte sich für sein rüpelhaftes Benehmen, und die Witwe gestand kleinlaut ein, daß sie selbst nicht höflicher gewesen war.

 

Schließlich rückten beide beschämt auch die Geschenke der Vorjahre heraus.

 

Und dann? Dann bot die Witwe dem Dorflehrer eine Tasse Tee an, und endlich kehrte der Weihnachtsfriede auch in ihren Herzen ein.

 

Oben im Himmel aber lächelte Sankt Nikolaus und lobte den zerstreuten Weihnachtswichtel.

 

 

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